Freie Nippel für alle, aber Angst vor nackten Brüsten: Deutschland, Land der Verklemmten?

Wiesbaden - Keine Brustwarze ist frei, bis alle Brustwarzen frei sind - so lautet der Leitspruch einer kleinen Bewegung, die ein Oben-ohne-Recht für Frauen an Orten erkämpfen will, an denen sich auch Männer mit nacktem Oberkörper zeigen. Die Debatte polarisiert, willkommen im Sommer 2022. Dabei dachten viele, dass Frauen "oben ohne" schon längst kein Aufreger mehr sind. Worum geht es also?

Frauen demonstrieren mit nacktem Oberkörper in Augsburg und kritisieren mit ihrem Auftritt, dass weibliche Brüste unter den §183a StGB "Erregung öffentlichen Ärgernisses" fallen.
Frauen demonstrieren mit nacktem Oberkörper in Augsburg und kritisieren mit ihrem Auftritt, dass weibliche Brüste unter den §183a StGB "Erregung öffentlichen Ärgernisses" fallen.  © dpa/Stefan Puchner

Zum Verständnis geht der Blick nach Göttingen: Dort ist seit Mai, zumindest am Wochenende, auch Frauen das Baden "oben ohne" im Schwimmbad erlaubt. Dies hat auch Debatten in anderen Städten angestoßen.

In Wiesbaden hat die Volt-Fraktion im Stadtparlament gemeinsam mit den Grünen, der SPD und der Linken das Thema auf die Tagesordnung gesetzt. Ein Antrag soll nach Angaben von Volt die ersten Schritte für ein "Oben-Ohne-Recht" in Wiesbadens Schwimmbädern einleiten.

"Nach erfolgter Prüfung der Erfahrungswerte anderer Kommunen verfolgt der Antrag das Ziel, auch in Wiesbaden die Badeordnung hin zu mehr Gleichstellung anzupassen", erklärte die Volt-Fraktion.

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Die Wiesbadener Bäderbetriebe "Mattiaqua" stehen der Sache nach den Worten eines Sprechers "aufgeschlossen gegenüber". Die Göttinger Testphase werde "mit großem Interesse" beobachtet, und zu gegebener Zeit sei ein Austausch mit dem dortigen Bäderbetrieb geplant.

"Im Nachgang hierzu ist es unsere Absicht, die dann getroffenen Erkenntnisse für die hiesigen Bäder im Herbst in unserer Betriebskommission zu diskutieren", teilte der Sprecher mit.

Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur förderte jetzt zutage, dass mehr als ein Drittel der Erwachsenen in Deutschland den Ansatz gut findet, Frauen das Oberteiltragen nicht unbedingt vorzuschreiben.

Fast ein Drittel aller Befragten finden weibliches Oben-ohne-Baden "nicht gut"

Badegäste stehen im FKK Bereich am Halberstädter See im Harz.
Badegäste stehen im FKK Bereich am Halberstädter See im Harz.  © dpa/Matthias Bein

37 Prozent finden es demnach positiv, wenn etwa im Freibad der klare Dresscode - Frauen müssen Bikini oder Badeanzug tragen, Höschen reicht nicht - aufgehoben wird. Jedoch finden 28 Prozent das Oben-ohne-Baden von Frauen "nicht gut". Der Rest ist unentschieden ("teils/teils") oder machte keine Angabe.

Vielleicht keine Überraschung: In erster Linie finden Männer die möglicherweise häufigere Aussicht auf entblößte Busen gut. Kurz: Willkommen im heterosexuellen Geschlechterklischee.

Auf die Frage "Erste Bäder erlauben nackte weibliche Oberkörper zu bestimmten Zeiten - wie finden Sie das?" antworteten 46 Prozent der männlichen Befragten mit "sehr gut" oder "eher gut", bei den Frauen waren es dagegen nur 28 Prozent.

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Schaut man in die Altersgruppen, so ist bei den männlichen Befragten die Zustimmung überdurchschnittlich hoch bei den 25- bis 34-Jährigen, den 45- bis 54-Jährigen und den Männern, die älter als 55 sind.

Auffällig: Junge Männer (18 bis 24 Jahre) antworteten weit unter dem Durchschnitt nur zu 32 Prozent positiv, während die gleichaltrigen Frauen - zumindest theoretisch - besonders positiv eingestellt sind (41 Prozent).

"Ich bin natürlich dafür, Frauen die Freiheit über ihren Körper zuzusprechen", sagt die Psychologin Ada Borkenhagen, die derzeit an einem Buch mit dem Titel "Bin ich schön genug? Schönheitswahn und Body Modification" arbeitet.

Psychologin sicher: Alter "Nacktbadeansatz" sinnvoller als "Nippelfreiheit für alle"

Deutschland gilt allgemein als das "Mutterland der FKK".
Deutschland gilt allgemein als das "Mutterland der FKK".  © dpa/Julian Stratenschulte

Doch sehe sie nackte Brüste in öffentlichen Bädern auch kritisch, sagt die Professorin von der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie an der Uni Magdeburg. "In unserer Gesellschaft ist die weibliche Brust nach wie vor ein anderes sexuelles Zeichen als die männliche Brust. Das kann man nicht rasch verändern, wenn einfach so getan wird, dass das doch dasselbe sei."

Forderungen nach einer "Nippelfreiheit für alle" passten zum Trend, alle Geschlechtsunterschiede einebnen zu wollen. "Doch beim Oben-ohne-Baden könnten vor allem junge Mädchen unter Druck geraten, ihre Brust zeigen zu sollen, auch wenn sie das vielleicht eigentlich doch nicht wollen."

Psychologin Borkenhagen findet den alten Nacktbadeansatz sinnvoller. "Frauen plötzlich nackte Brüste im Schwimmbad zu erlauben, ist etwas Anderes, als wenn in einem FKK-Bereich ein grundsätzliches Kleidungsverbot herrscht und wirklich alle gleich behandelt werden.

Am FKK-Strand oder in den gemischten Saunen Deutschlands gibt es vor lauter Nacktheit sowieso meist eine Kultur des Drüberhinwegschauens. Da existiert ein echter Gleichheitsgrundsatz, der die verschiedenen Aufmerksamkeitszeichen der Geschlechter offenlegt - bei Frauen eher obenrum, bei Männern untenrum."

Der Medizinhistoriker Heiko Stoff (58) von der Medizinischen Hochschule Hannover hält die gesamte Debatte übers Oben-ohne-Baden für Frauen, so erfreulich der egalitäre Grundgedanke auch sei, trotz allem für ein Nischenthema.

Das Gros der Frauen sieht sich beim Thema Nacktheit mit Scham behaftet

Selbst auf der Hochseeinsel Helgoland gibt es entsprechende FKK-Standabschnitte. Fotografieren und Filmen ist hier jedoch - natürlich - untersagt.
Selbst auf der Hochseeinsel Helgoland gibt es entsprechende FKK-Standabschnitte. Fotografieren und Filmen ist hier jedoch - natürlich - untersagt.  © dpa/Marcus Brandt

Er sieht das Internet vielmehr als Antreiber einer gewissen neuen Art von Scham. In den Selbstdarstellungen etwa bei Instagram dominiere heute stets eine Idealisierung des Körpers mit straffer Haut. "Die Realität ihres unbearbeiteten und 'undefinierten' Körpers macht dann vielen Angst und sie zeigen sich nicht so gerne."

Im Freibad oder am Strand empfänden viele für sich einen Druck, sich dem angeblichen Ideal anzunähern. "Schnell fühlt man sich als Versagerin oder Versager, der oder dem es nicht gelungen ist, den idealen Körper zu formen." Das schaffe Stress und nehme die Freude an der Nacktheit. Es gebe dann eine Konkurrenz, die ansonsten die Kleidung überdecke.

In der Tat: Die Yougov-Umfrage für die dpa zeigte auch, dass lediglich 18 Prozent der Erwachsenen gerne FKK-Orte besuchen, also Orte, an denen sie ganz nackt sein müssen, wie zum Beispiel Saunen, spezielle Thermen oder Strände.

Auf die Frage "Würden Sie sich selbst in Bezug auf Nacktheit als schamhaft bezeichnen?" antworteten 57 Prozent der Frauen mit "Ja". Bei den Männern waren es dagegen nur 40 Prozent.

Besonders überdurchschnittlich schamhaft in der Selbsteinschätzung waren hier übrigens junge Frauen bis Mitte zwanzig. Besonders schamlos (nur 32 Prozent sagen, sie seien schamhaft) sind ältere Herren ab 55 Jahren.

Titelfoto: dpa/Matthias Bein

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