Heute vor 60 Jahren: So wurde bei der "Aktion Kornblume" die DDR-Grenze gesäubert
Dresden - Über Nacht wurden vor 60 Jahren hunderte DDR-Bürger plötzlich zu Staatsfeinden, "unverbesserlichen Elementen", Asozialen oder Kriminellen erklärt. Um nach dem Bau der Berliner Mauer auch die Westgrenze der DDR zu sichern, wies Walter Ulbricht die Stasi an, "unzuverlässige Personen" aus dem Grenzgebiet zu entfernen - das wurde zynisch "Aktion Kornblume", "Aktion Festigung" oder auch "Aktion Frische Luft" genannt. Die meisten Opfer des 3. Oktober 1961 warten noch immer auf eine Entschädigung.
Schon weit vor Sonnenaufgang fuhren Lastwagen-Konvois mit bewaffneten Kampftruppen und Soldaten in dutzende Dörfer an der innerdeutschen Grenze. Die betroffenen Häuser wurden umstellt, die Familien wach geklingelt.
Binnen weniger Stunden sollten sie ihr Hab und Gut auf die Lastwagen bringen. "Zur eigenen Sicherheit haben Sie einen Wohnungswechsel vorzunehmen", las ein Volkspolizist die Anordnung vor.
Etwa 300.000 Menschen lebten damals noch im Fünf-Kilometer-Schutzstreifen der Grenze - von der Ostsee über den Harz und den Thüringer Wald bis ins Vogtland.
Die Zone gänzlich zu entvölkern, wagte sich die DDR-Führung nicht. Deshalb beschränkte man sich zunächst auf jene, die der Stasi bereits aufgefallen waren.
Und da genügte bereits, wenn man regelmäßig Gottesdienste besuchte, sich abfällig über den Mauerbau geäußert, die Antenne in Richtung Westen ausgerichtet oder zu Wahlen keine Fahne gehisst hatte.
Genau 3175 DDR-Bürger, darunter viele Kinder, wurden an diesem 3. Oktober ohne Vorwarnung aus ihrer gewohnten Umgebung gerissen.
Nach dem "Umzug" landeten die Betroffenen oft in verfallenen Häusern
Die Aktion war generalstabsmäßig vorbereitet. Die erste Direktive dazu erließ Walter Ulbricht bereits am 15. August, zwei Tage nach dem Mauerbau.
Vom 1. September gibt es eine Geheime Verschlusssache der Regierung zu "Ausweisung von Personen aus dem Grenzgebiet der Westgrenze der DDR." Auch die in enger Gemeinschaft lebenden Angehörigen sind mitzunehmen.
Die minutiöse und geheime Planung oblag dann Stasi-Chef Erich Mielke. Am 29. September empfahl er den Bezirksverantwortlichen bei der Abschlussbesprechung, Probleme nicht radikalistisch, sondern eher menschlich zu lösen: "Den Betroffenen ist das Gefühl eines Umzugs zu geben."
Die Räumkommandos verschwiegen allerdings zunächst den Ort, wohin die Betroffenen gebracht werden sollten. Man sollte nicht in Kontakt bleiben können.
An ihrem neuen Zuhause - oft weit über 100 Kilometer vom bisherigen entfernt - ereilte die Verschleppten der nächste Schock. Die ihnen zugewiesenen Häuser standen oft jahrelang leer und waren entsprechend verfallen. Und als Arbeit erhielten sie ungeachtet ihres Berufs zumeist einen Job in der Landwirtschaft.
Umgesiedelte Personen sollten als "Asoziale und Kriminelle" weiterhin überwacht werden
Selbst wer sich fügte und bereit war, dieses Schicksal in der Fremde anzunehmen, bekam immer wieder Knüppel zwischen die Beine geworfen. Denn den Nachbarn wurde erzählt, bei den Neuankömmlingen handele es sich um Asoziale oder Kriminelle, die weiter überwacht werden müssten. So wurden sie von ihrer neuen Dorfgemeinschaft gemieden.
Aus dem Vogtland wurden an diesem Tag 180 Personen verschleppt. Betroffen waren Orte wie Posseck, Burgstein, Wiedersberg oder Krebes. Wenige Jahre später wurden ganze Weiher und Kleindörfer geschliffen und devastiert. Der ehemalige Ortskern von Troschenreuth wurde inzwischen von einem Meer aus Brennnesseln erobert.
Hier begannen die Zwangsumsiedlungen bereits 1952. Damals startete die Stasi unter dem Tarnnamen "Aktion Ungeziefer" die ersten Verschleppungen aus dem innerdeutschen Grenzgebiet - an die 8000 Menschen mussten ihre Heimat verlassen. Wegen der noch offenen Grenze wählten aber viele die Flucht gen Westen.
Eine Entschädigung für die Vertriebenen gab es meist nicht
Nach der Wende gelang es nur ganz wenigen der Zwangsumgesiedelten, wieder am Ort der Vertreibung sesshaft zu werden. Sie hatten das Glück, dass ihr Haus noch stand und das Grundbuch nicht geändert wurde. Die meisten der Opfer warten noch heute auf Entschädigung.
Eine solche Wiedergutmachung hatte die letzte frei gewählte DDR-Volkskammer im September 1990 beschlossen. Das Gesetz sprach von Unrechtmäßigkeiten und Verletzung der Menschenrechte. Es galt aber nur vier Wochen - die Bundesregierung des nunmehr geeinten Deutschlands übernahm das Gesetz nicht.
Im 1992 verabschiedeten SED-Unrechtsbereinigungsgesetz ist die Entschädigung der Opfer rechtsstaatlicher Entscheidungen von DDR-Staatsorganen vorgesehen. Weil die Zwangsumsiedlungen und Enteignungen in der Regel aber ohne Gerichtsbeschlüsse erfolgten, gehen die Betroffenen auch hier leer aus. Selbst die Ehrenrente, wie sie anderen politisch Verfolgten der DDR längst zusteht, wird ihnen verweigert.
Der 1400 Kilometer lange Todesstreifen, welcher an der nach und nach mit Schussanlagen befestigten innerdeutschen Grenze entstand, ist inzwischen als "Grünes Band" ein riesiges Naturschutzprojekt und der größte Biotopverbund Deutschlands. An einigen Stellen findet man aber noch Gedenksteine oder kleine Museen, die an die schreiende Ungerechtigkeit des 3. Oktober erinnern.
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