Interview mit Extremismus-Forscher Dr. Johannes Kiess: Wo soll das bloß enden mit all den Protesten?

Leipzig - In Sachsen kochen Wut und Hass anscheinend immer höher. Soziale Medien schüren diffuse Ängste, dazu kommt die zunehmende Vereinnahmung der Protestbewegung durch Rechtsextreme. Woche für Woche steigt die Gewaltbereitschaft. Wie geht das weiter? Wir sprachen mit Rechtsextremismus-Forscher Dr. Johannes Kiess (36) von der Uni Leipzig. Er befürchtet, dass aus Zorn und Gewaltbereitschaft unter dem Label "Protest gegen die Corona-Diktatur" Terror werden kann.

"Einige wenige werden sich noch weiter radikalisieren": Rechtsextremismus-Forscher Dr. Johannes Kiess (36).
"Einige wenige werden sich noch weiter radikalisieren": Rechtsextremismus-Forscher Dr. Johannes Kiess (36).  © Swen Reichhold/Uni Leipzig

MORGENPOST AM SONNTAG: Wut und Hass brechen sich auf der Straße Bahn. Im sächsischen Lichtenstein wurde diese Woche sogar ein Polizist von einem aggressiven Protestler gebissen. Woher kommt die unbändige Aggressivität in der Querdenker-Szene?

Johannes Kiess: Einerseits sind bei diesen Demos schon seit Beginn gewaltbereite Neonazis, die auch mal den Weg freiräumen - siehe die Demo in Leipzig am 7. November 2020. Andererseits sind die meisten der Teilnehmer fest davon überzeugt, dass gegen eine angebliche "Corona-Diktatur" - es geht also sprichwörtlich ums Ganze - auch gewalttätiger Widerstand gerechtfertigt ist.

MOPO: Es gab zuletzt Morddrohungen gegen die Ministerpräsidenten Kretschmer und Schwesig. Die Politik scheint machtlos gegen Hass-Kriminalität insbesondere über den Messenger-Dienst Telegram zu sein. Ist das ein Zeichen für politisches Versagen in der Krise?

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JK: Die Sicherheitsbehörden haben die Radikalisierung insbesondere auf Telegram eineinhalb Jahre lang ignoriert - obwohl alles Relevante öffentlich zugänglich ist, Journalisten und Wissenschaftler weisen andauernd darauf hin. Das ist das eigentliche politische Versagen. Wünschenswert wären klare Anweisungen in Polizeidienststellen und Staatsanwaltschaften.

"Gefährliche Dynamiken ignoriert": Sind Entwicklungen noch aufzuhalten?

MOPO: Was raten Sie Politikern im Umgang mit Morddrohungen und Einschüchterungsversuchen?

JK: Gegenseitige Solidarität ist ein ganz wichtiger Punkt. Und dann sollten solche Dinge konsequent angezeigt werden, darüber hinaus aber, soweit möglich, ignoriert werden. Das klappt aber natürlich nur, wenn man sich auf die Sicherheitsbehörden dann auch verlassen kann.

MOPO: Ist die Staatsmacht von der Radikalität der Schwurbler-Bewegung überrascht worden oder überfordert? Denn viele, die aktuell die Bilder der "Spaziergänge" sehen, fragen sich: Warum wird nicht konsequenter gegen Rechtsbrecher eingeschritten? Sie auch?

JK: Nach meiner Beobachtung ist es nicht nur Überraschung und Überforderung. Unter dem Vorwand, es würden dort vor allem "besorgte Bürger" mitlaufen, wurde die gefährliche Dynamik ignoriert. Nach den Erfahrungen mit Pegida dürften die derzeitige Radikalität und Gewaltbereitschaft aber niemanden überraschen, wenn man wirklich hinschauen will. Und die Überforderung stellte sich ein, weil man die Dinge zu lange laufen ließ.

Frühzeitige Gefährder-Ansprachen, Vor-Ort-Präsenz und das Durchsetzen von Regeln sind verhältnismäßige Mittel und am Anfang so einer Dynamik leicht umsetzbar, im Verlauf wie momentan wird es natürlich schwieriger.

Hätte der Impf-Frust vermieden werden können?

Woher kommt bloß der blinde Hass? Tausende demonstrierten am 7. November 2020 bei der "Querdenker"-Demo auf dem Leipziger Augustusplatz.
Woher kommt bloß der blinde Hass? Tausende demonstrierten am 7. November 2020 bei der "Querdenker"-Demo auf dem Leipziger Augustusplatz.  © epd-bild/Jens Schulze

MOPO: Sollten Politiker trotzdem weiter den Dialog mit den Protestierenden suchen, man im Freundes- und Verwandtenkreis weiter im Gespräch mit Querdenkern bleiben? Wo sehen Sie die Grenzen?

JK: Das Gespräch sollte immer offenstehen, egal ob in der Öffentlichkeit oder im Privaten. Aber zu einem vernünftigen Gespräch gehören immer mindestens zwei. Was wir beobachten, ist doch, dass eine kleine Minderheit demokratischen Aushandlungsprozessen und dem rationalen Diskurs grundsätzlich eine Absage erteilt.

An der Stelle muss man dann auch einfach sagen: Meld' dich wieder, wenn du wieder zugänglich für Argumente bist.

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MOPO: Beim Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei scheint sich der dezentrale Ansatz vieler kleiner Demos in Deutschland für die Wutbürger auszuzahlen. Zudem werden inzwischen Kinder perfide als Schutzschilde missbraucht. Mit welchen weiteren Strategien rechnen Sie zukünftig noch?

JK: Das dezentrale Vorgehen suggeriert ja einerseits eine große Bewegung, wo wir es doch nur mit kleinen Gruppen zu tun haben. Andererseits ist die Teilnahme am lokalen Protest einfacher, als jedes Mal extra nach Berlin zu mobilisieren.

Ich rechne mit einer weiter zunehmenden Suche nach Eskalation. Der Protest gegen eine angebliche Diktatur muss ja irgendwie erlebbar werden. Bleibt das aus, ebbt die Dynamik wieder ab. In europäischen Ländern wie Spanien oder Portugal bleibt Kritik gegen Corona-Maßnahmen nahezu aus. Zudem ist die Impfquote dort hoch.

MOPO: Warum sind die Proteste besonders ausgerechnet im Osten und insbesondere in Sachsen so stark?

JK: Dafür gibt es viele Gründe. In Spanien und Portugal schätzt man die Leistung des Gesundheitswesens offenbar mehr. In den 1960er-Jahren war insbesondere Portugal noch ein armes Land. Die Leute sind - auch weil Corona dort heftig einschlug - dankbar für diese Leistung.

Außerdem wurde die Impfkampagne in diesen beiden Ländern sehr viel besser organisiert als hier. Daran sollten wir uns auch mal ein Beispiel nehmen. Kritik und eine öffentliche Debatte gibt es dort übrigens auch, aber sie läuft zivilisierter ab. Es werden Argumente ausgetauscht und nach Lösungen gesucht.

Protestplakate gegen die sächsische Corona-Notfallverordnung: Teilnehmer am "Montagsspaziergang" am 27. Dezember in Chemnitz.
Protestplakate gegen die sächsische Corona-Notfallverordnung: Teilnehmer am "Montagsspaziergang" am 27. Dezember in Chemnitz.  © Härtelpress
Ringen um angemessene Corona-Schutzmaßnahmen: Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (63, SPD) und Ministerpräsident Michael Kretschmer (46, CDU).
Ringen um angemessene Corona-Schutzmaßnahmen: Sachsens Gesundheitsministerin Petra Köpping (63, SPD) und Ministerpräsident Michael Kretschmer (46, CDU).  © Jürgen Männel
Aus Wut wird zunehmend Aggression. Die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft ist langsam zum Schreien.
Aus Wut wird zunehmend Aggression. Die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft ist langsam zum Schreien.  © 123RF

Experte beunruhigt: "Einzelne werden Anschläge planen"

Polizisten sehen sich bei Corona-Demos immer auch Neonazis, Verschwörungsideologen und Hooligans ausgesetzt.
Polizisten sehen sich bei Corona-Demos immer auch Neonazis, Verschwörungsideologen und Hooligans ausgesetzt.  © xcitepress/Finn Becker

MOPO: Die Debatte ist nicht so polarisiert worden. Mit welchen Reaktionen der Impfgegner rechnen Sie, sollte die allgemeine Impfpflicht eingeführt werden?

JK: Es wird sicher einige geben, die sich dem verweigern und lieber Bußgelder zahlen. Die werden sich dann eben infizieren und hoffentlich diese Entscheidung nicht bereuen. Einige werden sicher auch umdenken.

Aber: Corona ist ein Anlass, nicht die Ursache für die Ablehnung demokratischer Entscheidungen und die Wut auf "die Politik". Insofern werden sich viele auch ein neues Thema suchen, wenn das Thema Impfen irgendwann durch ist. Aber ich befürchte auch, dass sich einige wenige noch weiter radikalisieren. Darauf müssen wir uns einstellen.

MOPO: Nach ähnlichen Protestdemos in der Flüchtlingskrise wurde 2019 der Politiker Lübcke in Kassel erschossen. Welche Gefahren sehen Sie jetzt, wenn sich die Querdenker-Bewegung weiter radikalisiert?

JK: Es wird Einzelne und kleine Gruppen geben, die sich in dieser derzeitigen Dynamik so weit radikalisieren, dass sie auch Anschläge planen. Einen ersten Mord gab es bereits in Idar-Oberstein, in Dresden wurde eine Gruppe identifiziert, die konkret Gewalttaten plante. Diese Gefahr von Anschlägen wird uns leider in den nächsten Monaten und Jahren begleiten. Das ist der Auftrag an die Sicherheitsbehörden, hier klare Grenzen zu ziehen.

MOPO: Wird sich die Protestbewegung nach der Corona-Pandemie totlaufen oder müssen wir uns auf eine Kultur des zivilen Ungehorsams einstellen?

JK: Die Pandemie wird - hoffentlich früher als später - vorbei sein und dann werden sich auch die Demos totlaufen. Aber das Potenzial war schon bei Pegida sichtbar, teilweise sind es ja ähnliche Akteure und Milieus, die beteiligt sind. Dass sich ein kleiner Teil der Gesellschaft so radikalisiert und vom demokratischen Diskurs verabschiedet hat, bleibt uns also erhalten, auch wenn die Themen wechseln.

Titelfoto: Bildmontage: Swen Reichhold/Uni Leipzig, epd-bild/Jens Schulze

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