So geschehen vor 100 Jahren: Als der Kanzler Sachsens MP zum Rücktritt zwang

Dresden - Man stelle sich mal vor, der deutsche Präsident schickt eigenmächtig die Armee nach Sachsen, damit sie dort für Ruhe und Ordnung sorgt. Und der Kanzler fordert den sächsischen Ministerpräsidenten auf, die parlamentarische Arbeit einzustellen und gefälligst zurückzutreten. Unvorstellbar? Genau das passierte vor 100 Jahren. In Berlin glaubte man, damit eine Oktoberrevolution nach sowjetischem Vorbild im Keime zu ersticken. Gegen das Gespenst aus dem politisch rechtsradikalen Spektrum, welches zu dieser Zeit in München lauerte, unternahm man hingegen nichts.

Die Reichswehr marschierte 1923 mit Maschinengewehren in Freiberg ein.
Die Reichswehr marschierte 1923 mit Maschinengewehren in Freiberg ein.  © picture alliance/ullstein bild

Wer 1923 als ein Krisenjahr der noch jungen Weimarer Republik bezeichnet, macht sich der schieren Untertreibung verdächtig. Im Januar hatten die Franzosen nach dem Rheinland auch das Ruhrgebiet besetzt, um den stotternden Reparationszahlungen Nachdruck zu verleihen.

Die Reichsregierung rief zum passiven Widerstand auf. Um die Arbeiter trotzdem zu bezahlen, wurde die Notenpresse angeworfen und eine Hyperinflation erzeugt. Erspartes war nichts mehr wert, Millionen verloren die Arbeit und nagten am Hungertuch.

Zudem bemühten sich das Rheinland und die Pfalz um Autonomie vom Deutschen Reich, um sich an Frankreich anzulehnen. In Bayern hingegen strebte die Regierung an, im Reich wieder die Verhältnisse von vor 1918 herzustellen.

"Grenzschutz" in Oberfranken etabliert

Die Ruhe in Dresden und Sachsen war bald wiederhergestellt.
Die Ruhe in Dresden und Sachsen war bald wiederhergestellt.  © IMAGO/piemags

Man sah sich als "Ordnungszelle" und wartete nur auf ein Schwächezeichen der Berliner Politik. Völkische Paramilitärs von "Schwarzer Reichswehr" bis Nazi-SA etablierten einen "Grenzschutz" in Oberfranken, um möglichst schnell nach Thüringen und Sachsen einzumarschieren.

Das alles beobachtete man auch im damals "Roten Sachsen", wo nach dem Ruhrgebiet zwischen Chemnitz, Zwickau und Leipzig das zweite industrielle Herz des Reiches mit einer mächtigen Arbeiterschaft schlug.

Seit 1918 stellten hier die Sozialdemokraten die Regierung. Ab März 1923 führte Erich Zeigner (SPD) eine Minderheitsregierung, war dabei aber auf die Stimmen der Kommunisten aus der KPD angewiesen.

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Sachsen Abstau beginnt noch dieses Jahr: Trinkwassertalsperre wird für 30 Millionen Euro saniert

Gegen die faschistische Bedrohung aus dem Süden beschlossen SPD und KPD im Mai die Bildung "Proletarischer Hundertschaften" aus den Ordnungsdiensten beider Parteien. Sie sollten vorgeblich dem Schutz der Versammlungen und der Einrichtungen der Arbeiterorganisationen dienen. Sie wurden zwar bewaffnet, der militärische Wert war jedoch gering.

Doch für Reichspräsident Friedrich Ebert (ebenfalls SPD) und die Reichswehr stellte dies einen Affront dar - bildete sich hier eine Bürgerkriegsarmee?

Acht-Stunden-Tag in Sachsen geschützt

Auch in Dresden zeigte die Reichswehr Stärke.
Auch in Dresden zeigte die Reichswehr Stärke.  © picture alliance/ASSOCIATED PRESS

Und so gab es viele Differenzen zwischen Berlin und Dresden. Etwa: Während der Reichstag sozialpolitische Errungenschaften zurückdrehen wollte, wurde der Acht-Stunden-Tag in Sachsen geschützt.

Oder: Während Reichswehrminister Otto Geßler überzählige Waffen vor den Alliierten verstecken wollte, bevorzugte Erich Zeigner die Einhaltung des Versailler Vertrages - zwischen beiden entstand eine persönliche Feindschaft.

Als Bayern die Autorität der Reichsregierung offen infrage stellte, reagierte diese mit dem Ausnahmezustand für das Reich. Den nutzte der für Sachsen zuständige Generalleutnant Alfred Müller, um die sächsische Polizei der Reichswehr zu unterstellen und die proletarischen Hundertschaften zu verbieten.

Zeigner wehrte sich, indem er nun die KPD mit drei Ministern in die Regierung aufnahm. Für Berlin ein Tabubruch.

Revolution in Deutschland?

Kinder spielen 1923 mit wertlos gewordenem Inflationsgeld.
Kinder spielen 1923 mit wertlos gewordenem Inflationsgeld.  © picture-alliance/akg-images

Chef der Dresdner Staatskanzlei wurde der deutsche KPD-Chef Heinrich Brandler. Der hatte tatsächlich aus Moskau den Auftrag, in Deutschland eine Revolution anzuzetteln. Bei einer Arbeiterkonferenz am 21. Oktober in Chemnitz rief er deshalb auch zum Generalstreik auf.

Doch Sachsens Arbeiterschaft lehnte eine bolschewistische Revolution frostig ab, man bevorzugte weiter das "linksrepublikanische Projekt" der Zeigner-SPD.

Damit war es jetzt aber vorbei. Wegen Brandlers Aufruf schickte Ebert 60.000 Soldaten nach Sachsen. Es kam zu offener Gewalt gegen Kommunisten, in Chemnitz und Zwickau wurden Volkshäuser und Parteizentralen besetzt. Bei vielen Schießereien floss Blut - allein in Freiberg gab es 29 Tote und 22 Verletzte.

Gustav Stresemann forderte Ministerpräsidenten zum Rücktritt auf

Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 bis 1925, SPD) ging gegen den eigenen Parteigenossen vor.
Reichspräsident Friedrich Ebert (1871 bis 1925, SPD) ging gegen den eigenen Parteigenossen vor.  © imago/United Archives International

Am 27. Oktober kam ein Schreiben des Reichskanzlers Gustav Stresemann (DVP) an, welches den Ministerpräsidenten zum Rücktritt aufforderte. Nach geltender Verfassung war dies möglich, nannte sich Reichsexekution. Zeigner weigerte sich.

Aber nur zwei Tage lang. Denn dann wurde ein Ultimatum für 14 Uhr gestellt, eine Viertelstunde später marschierte die Reichswehr durchs Regierungsviertel und besetzte die Diensträume.

Sachsens Landtag wählte wenig später einen neuen SPD-Ministerpräsidenten, diesmal ohne KPD-Minister. Damit zog wieder "Normalität" ein. Die SPD im Reichstag nahm dem Reichskanzler Stresemann dieses Eingreifen in Sachsen ziemlich übel, er musste schon bald seinen Hut nehmen.

Kurz vorher hatte er aber noch mit einem Taschenspielertrick - die Einführung der Rentenmark - die Inflation beendet. In Deutschland begann nach 1923 die Zeit, die man heute etwas verklärend die "Goldenen Zwanziger" nennt.

Titelfoto: picture alliance/ullstein bild

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