Straßenbahn fuhr erstmals 1892: Wie der Nachwuchs die "Wilde Zicke" retten will
Von Inga Jahn
Naumburg - Finanzielle Sorgen hin oder her: Die Naumburger Straßenbahn rollt auch in Jahrzehnten noch. Das ist für den 19 Jahre alten Jonathan Niklas Babel klar. Wie eh und je wird sie auch in ferner Zukunft noch Menschen einsammeln - egal, was sie verdienen, egal, wohin sie möchten. Denn: Die von den Einheimischen liebevoll "Wilde Zicke" genannte Bahn sei immerhin nicht irgendein Verkehrsmittel, sagt der erste und derzeit auch einzige Azubi im Straßenbahndepot.

"Dass die Naumburger Straßenbahn fährt, hat einen Einfluss auf die Stadtgesellschaft", so Babel. Die Bahn sei Geschichte und Alltag zugleich - und darüber hinaus noch so viel mehr. Ein Ort der Zwischenmenschlichkeit und - natürlich - das Aushängeschild der Domstadt.
Zusammen mit einem Kollegen leitet derzeit Andreas Plehn den Betrieb. In den vergangenen Monaten hatte er nur wenig Zeit für Gedanken zur Zukunft der historischen Bahn. Denn weil das Geld so knapp ist, gab es immer wieder Momente, in denen er nicht wusste, ob die Straßenbahn überhaupt noch weiterrollen kann.
"In Zukunft wird es wichtig sein, neues und altes Wissen zu haben", sagt Plehn, der eigener Erzählung nach schon als Zehnjähriger davon träumte, einmal Chef der Naumburger Straßenbahn zu werden. Die finanzielle Herausforderung sei jetzt. In Zukunft kämen aber noch ganz andere Herausforderungen dazu - etwa Digitalisierung und Barrierefreiheit.
Erstmals fuhr die Straßenbahn, damals noch als Dampflokomotive, im September 1892 durch Naumburg. Seitdem gab es immer wieder Betriebsstopps und Überlebenskampf.
Strecke gerade mal 2,8 Kilometer lang

1994 sorgten Plehn und ein kleines Team aus passionierten Bahnern dafür, dass die "Wilde Zicke" wieder rollt. Für ihn war damals wie für seinen Auszubildenden heute unvorstellbar, dass sie nicht mehr Teil des Stadtbildes ist. Heute fährt sie mehrmals täglich über 2,8 Kilometer Schiene.
Plehn und sein Team gelten als das kleinste Straßenbahnunternehmen in Deutschland. Nachwuchs im Team zu haben bedeute auch, die Bahn langfristig zu sichern, ist sich der Geschäftsführer sicher. Der Landkreis hatte jüngst entschieden, die Bahn finanziell zu unterstützen.
Die Zukunft der Bahn muss Babel nicht allein schultern. Sie sind zu zweit: Babel und ein Student, der vielleicht einmal in Plehns Fußstapfen treten könnte. Der Azubi wolle irgendwann einmal die Werkstattleitung übernehmen, erzählt er. Auf dem Weg dahin - so ist er sich sicher - werden sich noch andere junge Menschen finden, die Teil des Straßenbahn-Teams werden wollen.
"Die beiden haben erkannt, was zählt", sagt Plehn stolz und mit einem Lächeln im Gesicht. Noch blieben ja einige gemeinsame Jahre. In der Zeit werde die Verantwortung Stück für Stück an die neue Generation abgegeben. "Wichtig ist, dass wir immer Hand in Hand gehen."
Die Stelle fürs Leben

Aber was hält einen jungen Menschen wie Babel in einem Betrieb, der Zukunftssorgen hat, der schlechter zahlt als das benachbarte Busunternehmen und der - so könnte man behaupten - sowieso ein bisschen von gestern ist?
Für Babel ist die Antwort leicht: "Für mich zählt die Gemeinschaft hier." Hier habe er seine Stelle im Leben gefunden.
Und deshalb, so glaubt er, werde er auch in 50 Jahren noch auf der Holzbank im Straßenbahndepot sitzen. Er leitet die Werkstatt, sein Kollege ist Geschäftsführer. Oder doch jemand anderes. Das wird sich zeigen.
In Naumburg fährt die Straßenbahn dann auf jeden Fall immer noch. Und in ihr werden sich die Menschen unterhalten, statt auf das Handy zu schauen. In der "Wilden Zicke" entstehen Erinnerungen. Darin fährt jeder mit.
Titelfoto: Hendrik Schmidt/dpa