Blumen, die wie echt aussehen, aber viel länger halten - In Sebnitz blüht noch immer eine seltene Kunst

Sebnitz - Blumen! Sie sind Glücksbringer, hellen unsere Stimmung auf und können sogar Stress abbauen. Doch wie soll das gehen, wenn die Sonne fehlt? Dafür gibt's Kunstblumen, die in Sebnitz geblümelt werden - so nennt man den Herstellungsprozess. Von ehemals 5000 meist Blümlerinnen in Sachsen gibt es jetzt nur noch zwölf in Sebnitz, die das seltene Handwerk beherrschen. Wir stellen eine der Letzten vor, für die Kunstblumen nicht künstlich, sondern echte Kunst sind.

Wenn im Bindesaal aus Blütenblättern eine Blume wird: Viola Scheibe (62) beherrscht die Die Kunst des Blümelns - hier beim finalen Stielen einer Kunstblume.
Wenn im Bindesaal aus Blütenblättern eine Blume wird: Viola Scheibe (62) beherrscht die Die Kunst des Blümelns - hier beim finalen Stielen einer Kunstblume.  © Norbert Neumann

Viola Scheibe (62) spielt in einer Liga mit flinken Zauberern, geschickten Uhrmachern und behänden Chirurgen. Mit viel Fingerfertigkeit und flinken Händen kann sie Blumen wachsen und Blüten sprießen lassen.

Blümeln nennt man das, ein langsam aussterbendes Handwerk. Den Schöpfer-Job als Assistentin von Mutter Natur hat sie von der Pike auf gelernt, blümelt seit inzwischen 23 Jahren: "Ich kam durch meine Schwester zum Beruf, die seit 1977 im VEB Kombinat Kunstblume Sebnitz arbeitete."

Sie brachte manchmal kleine Blütenbätter mit nach Hause und entfachte so auch Violas Liebe zum Beruf. Längst kennt Viola das Sebnitzer Produktionsquintett des Blümelns in- und auswendig: Streicherei, Stanzerei, Färberei, Prägerei und Binderei. Sie kennt sich in jedem der fünf Betriebsbereiche aus.

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Wer zu Beginn in der sogenannten Streicherei die Stoffballen mit Seide, Taft, der dickeren und glänzenden Atlas-Seide und dem ganz dicken Baumwoll-Samt sieht, winkt erst mal ab: Aus diesen schnöden Stoffen sollen filigrane Blumen werden? "Ganz genau", schmunzelt Viola und erklärt, wie's geht.

"Zuerst werden die Stoffe auf Rahmen aufgespannt und mit einem Sud aus Gelatine oder Kartoffelstärke eingestrichen - daher auch der Name 'Streicherei'." Das Mischungsverhältnis der Streichpaste: ein streng gehütetes Betriebsgeheimnis.

Schon beim nächsten Arbeitsgang in der Stanzerei kommen flinke Finger ins Spiel. "Die dürfen nämlich keinesfalls unter die Motorstanze kommen", warnt Viola. Die Stanze macht mit einer Kraft von zwei Tonnen ganz schön Druck. Damit kann sie bis zu 36 übereinandergelegte Stoffbahnen ausstanzen - und das, obwohl das antike Stück noch aus den 1940er-Jahren stammt.

"Für Formen und Muster stehen uns insgesamt 75.000 Stanz- und Prägeeisen zur Verfügung", sagt Viola und zeigt auf riesige Regalreihen. Darin liegen wie in einem überdimensionierten Setzkasten Stanzen für Gänseblümchen, Löwenzahn, aber auch Disteln und Farne und die dazu passenden Prägeeisen für feine Blattaderungen, -maserungen, und -wölbungen.

3,70 Meter hoch, 1,50 Meter im Durchmesser: Die größte Seidenrose der Welt steht sogar im Guinness Buch der Rekorde und überragt ihre Schöpferinnen.
3,70 Meter hoch, 1,50 Meter im Durchmesser: Die größte Seidenrose der Welt steht sogar im Guinness Buch der Rekorde und überragt ihre Schöpferinnen.  © imago stock&people
Wischen, tauchen, pinseln: In der Färberei bekommt das Blütenblatt sein unverwechselbares Aussehen verpasst.
Wischen, tauchen, pinseln: In der Färberei bekommt das Blütenblatt sein unverwechselbares Aussehen verpasst.  © Norbert Neumann
Mit Kraft und Geschick: In der Stanzerei (F.r.) werden aus Stoffbahnen kleine Blüten herausgestochen.
Mit Kraft und Geschick: In der Stanzerei (F.r.) werden aus Stoffbahnen kleine Blüten herausgestochen.  © Norbert Neumann
Mehrere 10.000 stehen zur Auswahl: Für jede Blüte gibt es im Eisenkeller eigene Stanzwerkzeuge, die früher auch in der Manufaktur selbst hergestellt wurden.
Mehrere 10.000 stehen zur Auswahl: Für jede Blüte gibt es im Eisenkeller eigene Stanzwerkzeuge, die früher auch in der Manufaktur selbst hergestellt wurden.  © Norbert Neumann
Original oder Kopie? Wenn daran Zweifel aufkommen, haben die Blümelerinnen perfekt gearbeitet.
Original oder Kopie? Wenn daran Zweifel aufkommen, haben die Blümelerinnen perfekt gearbeitet.  © Norbert Neumann

Kleinste Blattstrukturen bei 200 Grad Hitze geprägt

Lässt Blumen sprechen: Betriebsleiterin Lisa Schmidt (35) präsentiert einen Strauß Feld- und Wiesenblumen im Werksverkauf.
Lässt Blumen sprechen: Betriebsleiterin Lisa Schmidt (35) präsentiert einen Strauß Feld- und Wiesenblumen im Werksverkauf.  © Norbert Neumann

Mit den ausgestanzten Stoffschnipseln geht Viola in die Färberei. "Hier werden durch Wischen, Tauchen und mithilfe von Schablonen Textil- und Lebensmittelfarben aufgebracht." Und mit viel Geschick, um Farbverläufe wie auf Stiefmütterchen lebensecht nachbilden zu können.

Dabei werden aus den uniformen Blütenformen Pinselstrich für Pinselstrich echte Unikate.

Doch noch ist die Blüte platt wie eine Flunder. Das ändert sich in der Prägerei. "Hier werden mit Stanz- und Prägeeisen unter Druck und bei bis zu 200 Grad Hitze die fein verästelten Blattstrukturen geprägt", sagt Viola.

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In der Binderei feiern Blütenblättchen, -stempel und -stengel schließlich Hochzeit, werden für ein dauerhaftes Zusammenleben zusammengebunden - Violas Spezialität.

In ihren Händen wachsen wie in der Natur erst die Staubgefäße, dann die Blütenblättchen. Am Ende wird der Stiel aus Draht mit selbstklebendem grünen Wickelpapier geformt. "Früher gab es Normzeiten. So mussten 100 Drahtstiele in 19 Minuten mit Leim auf die Laubblätter geklebt werden - Stielen nennt man das."

Während die filigranen Blütenstempel klitzeklein sind, wurde in der Manufaktur auch die mit 3,70 Meter Höhe größte Seidenrose der Welt geschaffen. Dafür waren 50 Meter Seide und 4,5 Kilo Draht notwendig. Fünf Blümelerinnen brauchten für die Erschaffung des 10-Kilo-Monstrums eine Woche.

Der Rosenriese "blüht" heute noch, denn Kunstblumensträuße sind Bouquets für die Ewigkeit. Sie halten jahrzehntelang und brauchen kaum Pflege. "Staub entfernt man einfach mit kalter Luft aus dem Föhn", verrät Viola einen Trick. Nur nass werden dürfen sie nie, sonst "verwelken" sie förmlich.

Fertig geblümelt stehen die täuschend echten Kopien dann im Werksverkauf im Erdgeschoss oder im Internetshop - ab 4,60 Euro als günstigste Wiesenblume bis zur Englischen Rose für 49,90 Euro. Bei ihr muss jedes Blütenblatt einzeln über eine Ahle gezogen werden, um optisch den typischen Abknickeffekt zu erzielen.

Im Laden kann man die Blumen, Blätter und Blüten nicht mehr von ihren Vorbildern in freier Natur unterscheiden. Nur eines können die Sebnitzer Kunstblumen (noch) nicht - duften wie echte Blumen.

Mehr Infos: deutsche-kunstblume-shop.de

Sachsens letzte und einzige Kunstblumenfabrik: Die Manufaktur "Deutsche Kunstblume Sebnitz" steht am Neustädter Weg direkt an der Sebnitz.
Sachsens letzte und einzige Kunstblumenfabrik: Die Manufaktur "Deutsche Kunstblume Sebnitz" steht am Neustädter Weg direkt an der Sebnitz.  © Norbert Neumann
Im Blumenladen der Manufaktur gibt's jedes Jahr etwas Neues: 2025 sind Heidenelken neu im Programm. Die Trendfarben der Saison sind blau, grün und türkis.
Im Blumenladen der Manufaktur gibt's jedes Jahr etwas Neues: 2025 sind Heidenelken neu im Programm. Die Trendfarben der Saison sind blau, grün und türkis.  © Norbert Neumann
Im 19. Jahrhundert europaweit Hochburg der Seidenblumen-Herstellung: In der Sebnitzer Schauwerkstatt lagern auch 100 Jahre alte Muster.
Im 19. Jahrhundert europaweit Hochburg der Seidenblumen-Herstellung: In der Sebnitzer Schauwerkstatt lagern auch 100 Jahre alte Muster.  © picture-alliance/ dpa/dpa/Matthias Hiekel

Einst beherrschten noch Tausende das Handwerk

Meisterinnen der Geduldsarbeit: Kunstblumenherstellung vor hundert Jahren in Sebnitz.
Meisterinnen der Geduldsarbeit: Kunstblumenherstellung vor hundert Jahren in Sebnitz.  © IMAG/stock&people

Die Stoffe für Blüten und Blätter aus Samt bis Seide kommen aus Böhmen, von wo das Blümeln einst nach Sachsen überschwappte.

Ganze Familien blümelten für Hut-, Kleider- und Tafelschmuck. In über 100 Firmen wurde geblümelt - auch in Handarbeit.

Mit der Verstaatlichung 1953 wurden über 100 Betriebe aus dem Raum Sebnitz und Neustadt zum VEB Kombinat Kunstblume Sebnitz verflochten, mussten vor allem Devisen erwirtschaften. "98 Prozent der Produktion gingen ins Ausland", erzählt Lisa Schmidt (35), seit 2019 Betriebsleiterin.

1989 arbeiteten 3500 Beschäftigte in der Kunstblume. "Nach der Wende brach der Absatz abrupt ein", sagt Schmidt. "Billigblumen aus Fernost überschwemmten den Markt." Doch der Sebnitzer Bürgermeister Peter Maly (†63) wollte die Tradition nicht sterben lassen, machte aus der Produktionsstätte eine Schaumanufaktur mit Werksverkauf unter städtischer Verwaltung.

Schmidt: "Wir schon haben das Trauzimmer auf Schloss Rochsburg ausgestattet. Einen Großkunden in den USA und zwei Herrenausstatter in Berlin beliefern wir mit Knopflochblumen. Und oft sollen wir Brautsträuße von Hochzeitsfotos originalgetreu nachbilden."

Schauwerkstatt Sebnitz, Neustädter Weg 10. Geöffnet: dienstags bis samstags 10 - 17 Uhr.

Titelfoto: Montage: Norbert Neumann

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