Sachsens einflussreichste EU-Politikerin: Bürokratie-Abbau ja, aber nicht auf Kosten der Bürger

Dresden/Brüssel - Etwa 40 bis 50 Prozent der deutschen Gesetze setzen EU-Vorgaben um. Es ist daher wichtig, auch in der europäischen Hauptstadt Brüssel mitzumischen. Sachsens einflussreichste EU-Politikerin heißt Anna Cavazinni (42, Grüne). Sie ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz.

TAG24-Redakteurin Pia Lucchesi (r.) sprach in Brüssel mit EU-Politikerin Anna Cavazinni (42, Grüne).
TAG24-Redakteurin Pia Lucchesi (r.) sprach in Brüssel mit EU-Politikerin Anna Cavazinni (42, Grüne).  © privat

Im Interview mit TAG24-Redakteurin Pia Lucchesi sagt Cavazzini, wie sie zum Verbrenner-Aus steht, was gefährlich ist am Bürokratieabbau und warum sie mit den Tränen kämpfte, als die europäische Kulturhauptstadt Chemnitz sich in Brüssel präsentierte.

TAG24: Die europäische und speziell die deutsche Wirtschaft stehen enorm unter Druck. Um neue Kräfte zu entfesseln, will man Gesetze und Verordnungen abschaffen oder vereinfachen. Eine gute Idee?

Anna Cavazzini: Niemand ist gegen Bürokratieabbau. Aber natürlich dürfen diese ganzen Vereinfachungen jetzt nicht auf Kosten der Verbraucher oder von Umwelt- und Sozial-Standards passieren.

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Leider ist das aber gerade so eine Tendenz. Diese Diskussion wird dazu genutzt, genau diese Standards abzubauen. Dem stelle ich mich total dagegen. Es ist unglaublich wichtig, die Europäische Union nicht nur als Markt zu begreifen, sondern auch als Union der Bürgerinnen und Bürger.

KI und Trumps Zoll-Eskapaden

Die Politik von US-Präsident Donald Trump (79) zwingt Europa zum Umdenken.
Die Politik von US-Präsident Donald Trump (79) zwingt Europa zum Umdenken.  © IMAGO/ZUMA Press Wire

TAG24: Haben Sie Angst, dass die EU auch das neue KI-Gesetz infrage stellt?

Cavazzini: Ja, sehr. Alle großen Wissenschaftler der Welt warnen davor, was für eine Macht KI haben wird. Unser Gesetz reguliert die stärksten Risiken von KI und schützt die Bürgerrechte. Ich halte es darum für total gefährlich, wenn man das Gesetz jetzt abschwächt.

TAG24: Wo liegen Ihrer Ansicht nach die Hauptursachen der Schwäche der europäischen Wirtschaft?

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Cavazzini: China hat massiv aufgeholt und ist dort wettbewerbsfähig, wo zum Beispiel Deutschland mal spitze war. Dazu kommen Trump und seine Zoll-Eskapaden. Es ist auch nicht zu leugnen, dass in den vergangenen Jahren zu wenig in Europa investiert wurde und Deutschland Innovationskraft verloren hat. Zu sagen, dass die Ursachen im Lieferketten-Gesetz oder der EU-Regel gegen Greenwashing liegen, ist eine Scheindebatte. Die Wirtschaft hat strukturelle Probleme.

Verbrenner-Aus und Schutz europäischer Interessen

Ab 2035 sollen neue Benzin- und Diesel-Autos keine Zulassung mehr erhalten. (Symbolfoto)
Ab 2035 sollen neue Benzin- und Diesel-Autos keine Zulassung mehr erhalten. (Symbolfoto)  © Norbert Neumann

TAG24: In der EU sollen ab 2035 keine neuen mit fossilem Diesel oder Benzin betankten Pkw mehr neu zugelassen werden. Kanzler Merz und auch Sachsens Ministerpräsident Kretschmer fordern ein Abrücken davon.

Cavazzini: Das finde ich ganz fatal. Die Unternehmen brauchen Planungssicherheit. China überholt uns gerade. Unsere Autoindustrie hat zu wenige und vor allem keine kleinen, günstigen E-Autos gebaut.

Das ist der wahre Grund, warum wir gerade in Sachsen jetzt solche Probleme haben. Diese Debatte ist für mich ein Ablenkungsmanöver. So muss man sich nicht um die strukturellen Probleme kümmern.

TAG24: Wie wären die Mehrheiten jetzt im EU-Parlament, wenn die EU-Kommission das Gesetz zum Verbrenner-Aus novellieren und erneut ins Parlament bringen würde?

Cavazzini: Es gibt hier gerade rechte und auch rechtsextreme Mehrheiten. CDU/CSU reißen öfter mal die Brandmauer ein, ohne dass man davon in Deutschland Notiz nimmt. Wir arbeiten immer für Mehrheiten in der Mitte, aber ob das klappt, hängt stark an den Konservativen.

TAG24: "America First" ist das Motto von US-Präsident Trump. Die EU war bislang zurückhaltend, wenn es um den Schutz ihrer Interessen und gegen den Freihandel ging. Bleibt es dabei?

Cavazzini: Da findet gerade ein Umdenken statt. Es werden Handelsschutz-Instrumente installiert - zum Beispiel gegen stark subventionierte E-Autos oder Stahl aus China. Ich finde das richtig. Wir schützen unsere Industrien damit - zum Beispiel auch VW in Zwickau.

Zolldeal und Stimmung im Parlament

Cavazzini (2.v.r.) bei einer Sitzung des Europa-Parlaments in Straßburg.
Cavazzini (2.v.r.) bei einer Sitzung des Europa-Parlaments in Straßburg.  © picture alliance/Hans Lucas

TAG24: Hat die EU aus ihren Fehlern gelernt? Die Solarindustrie wurde mit viel europäischem Geld auch in Sachsen aufgebaut. Schlussendlich haben die Chinesen dann die Technologie für sich genutzt und mit billigen Modulen den Markt geflutet. Während europäische Hersteller wie Meyer Burger pleitegingen.

Cavazzini: Absolut. Das ist hier in Brüssel eigentlich bei fast allen Konsensmeinung.

TAG24: Wie zufrieden sind Sie mit dem Deal, den die Kommissionspräsidentin bei Zollverhandlungen mit der Trump-Regierung geschlossen hat?

Cavazzini: Der Deal ist nicht gut. Die EU-Kommission ist eingeknickt und hat ihre eigenen Grundsätze untergraben. 15 Prozent US-Zölle für EU-Produkte finde ich nicht okay. Ich hätte mir gewünscht, dass Europa härter aufgetreten wäre. Da wäre ein besserer Deal möglich gewesen.

TAG24: Wie ist derzeit die Stimmung im EU-Parlament?

Cavazzini: Nicht gut. Es ist schwer, stabile Bündnisse zu schmieden. Der Ausgang von Abstimmungen ist schwer vorhersehbar. Das sieht man auch daran, dass Gesetze, die gerade erst verabschiedet wurden, wieder zurückgenommen werden. Das gab es nie. In der EU herrschte stets das Kontinuitätsprinzip.

Austausch mit Sachsens Landesregierung und Kulturhauptstadt-Jahr

Beim Lichtkunstfestival Light our Vision (LOV) erstrahlte die europäische Kulturhauptstadt in bunten Farben.
Beim Lichtkunstfestival Light our Vision (LOV) erstrahlte die europäische Kulturhauptstadt in bunten Farben.  © Kristin Schmidt

TAG24: Wie eng ist Ihr Kontakt zur Staatskanzlei in Dresden?

Cavazzini: Die letzte Landesregierung hat mit grüner Beteiligung starke europapolitische Akzente gesetzt. Diesen Schwerpunkt setzt die neue Regierung nicht mehr. Das merkt man auch. Der regelmäßige Austausch ist eingeschlafen.

TAG24: Das Kulturhauptstadt-Jahr neigt sich für Chemnitz dem Ende entgegen. Was wird davon bleiben?

Cavazzini: Ich hoffe, die Aufbruchstimmung. Ich bin im Parlament oft angesprochen worden von Menschen, die Chemnitz in diesem Jahr besucht hatten. Sie fanden es alle genial. Jetzt kommt es darauf an, den Schwung in die Zukunft zu tragen.

TAG24: Es gab in Brüssel eine Kulturhauptstadt-Veranstaltung, die von Ihnen zusammen mit den sächsischen EU-Parlamentariern Oliver Schenk (CDU) und Matthias Ecke (SPD) organisiert wurde.

Cavazzini: Ja, etwa 300 Menschen haben daran teilgenommen. Ich hatte Tränen in den Augen bei der Präsentation der Stadt. Ich habe 2003 dort studiert und war so stolz, wie viel Positives seither dort entstanden ist.

Grünen-Politikerin seit 2019 im EU-Parlament

Anna Cavazinni (42, Grüne) ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz.
Anna Cavazinni (42, Grüne) ist seit 2019 Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzende des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz.  © picture alliance/Hans Lucas

Anna Cavazzini wurde 1982 in Schlüchtern (Hessen) geboren. Nach einem Freiwilligenjahr in Mexiko absolvierte sie den Bachelorstudiengang European Studies an der TU Chemnitz.

Sie arbeitete u. a. für das Auswärtige Amt, verschiedene Organisationen und bei der UNO, bevor sie 2019 ins Europaparlament einzog.

Dort setzt sich Cavazzini für einen nachhaltigen EU-Binnenmarkt und eine gerechte Globalisierung ein. In ihrer Freizeit geht die Politikerin gern klettern.

Ihre Wahlkreise sind Sachsen und Sachsen-Anhalt.

Titelfoto: picture alliance/Hans Lucas

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