Der (tiefe) Fall von Uwe Tellkamp - "Ich bin kein Nazi"

Dresden - Dresden, ein hartes Pflaster. Dresden als Schmelztiegel nicht bewältigter Wende-Aufarbeitung? Warum ist man in der Landeshauptstadt Sachsens "streitbarer, lauter, auffälliger". "Die Dresdner" werden seit 2015 argwöhnisch beobachtet - die Doku (2022) "Der Fall Tellkamp" beleuchtet den Autor, seine Mitstreiter und Kritiker in fünf Episoden.

Die Doku "Der Fall Tellkamp" ist derzeit bei 3sat zu sehen. Uwe Tellkamps (53) Roman "Der Turm" wurde über eine Million Mal verkauft und verfilnt.
Die Doku "Der Fall Tellkamp" ist derzeit bei 3sat zu sehen. Uwe Tellkamps (53) Roman "Der Turm" wurde über eine Million Mal verkauft und verfilnt.  © 3Sat

DDR-Erklärer Frank Richter (62) reist herum - versucht zu schildern, wie "die Ossis" ticken.

Richter möchte in der 3sat-Doku das Phänomen Uwe Tellkamp (53, "Der Turm", über eine Million Mal verkauft) verstehen - geht auf ihn zu.

Bei einer Podiumsdiskussion im Dresdner Kulturpalast fallen von Tellkamp Worte wie "Gesinnungskorridor" (also erlaubtes "Sagbares" und lieber "Nichtsagbares") - das gebe es nun mal; in welchem "Framing" leben wir?

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Dann der Satz, der Tellkamps Leben auf den Kopf stellt: "95 Prozent der Flüchtlinge kommen, um in unsere Sozialsysteme zu gelangen."

Seither sieht er sich missverstanden, in die rechte Ecke gestellt. Der Suhrkamp-Verlag distanzierte sich aufgrund eben jener Aussagen von ihm.

Richter versucht, teils zu schlichten, Tellkamps Aussagen einzuordnen. Für den katholischen Pastor gab es vier Verluste nach dem Fall der Mauer 1989, "mit denen die Ossis klarkommen" mussten: Bevölkerungsschwund, Entindustrialisierung, Preisgabe der Souveränität und Sicherheitsverluste. "Das muss eine Gesellschaft erstmal verkraften."

Die Orientierungs- und Identitätssuche der "DDRler" sei in den ersten Jahren an der Tagesordnung im Osten - resultiert daraus das "Phänomen Dresden"?

Frank Richter: "Riss durch die Gesellschaft"

Frank Richter (62) kommt in der Doku zu Wort, versucht einzuordnen und zu erklären, warum ausgerechnet Dresden "laut" ist.
Frank Richter (62) kommt in der Doku zu Wort, versucht einzuordnen und zu erklären, warum ausgerechnet Dresden "laut" ist.  © 3Sat

Der Osten war "völlig abgemeldet" - man wollte aber "keine Banane, sondern es ging um die Wurst", so Tellkamp - er meint, es ginge damals um "Freiheit" statt "Geld".

"Pegida" hatte ab 2014 mit der einsetzenden Flüchtlingswelle "leichtes Spiel". Neben Richter kommt auch der in Dresden geborene Autor Ingo Schulze (59) zu Wort.

"Die mit den Deutschlands-Fahnen" kamen, weil sich Ossis vom "zweitklassigen zum drittklassigen Deutschen" entwickeln würden: "Es war die Angst, sozusagen vom zweitklassigen Deutschen jetzt zum drittklassigen Deutschen zu werden."

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Lange verdrängte Probleme wurden an die Oberfläche gespült. Die Ossis seien aber nicht die "größeren Nazis, sondern die lauteren".

Dresden: "Hauptstadt der Debatten"

Über die "Casa Tellkamp" gab es seit 2018 zahlreiche Diskussionen - wie hier im Societaetstheater Dresden.
Über die "Casa Tellkamp" gab es seit 2018 zahlreiche Diskussionen - wie hier im Societaetstheater Dresden.  © 3Sat

Suhrkamp distanzierte sich unter anderem auf Twitter von Tellkamp - gefragt, wie er heute seine 2018er-Worte sieht, relativiert er: "95 Prozent" seien es nicht, die kommen, um in das "Sozialhilfe-Polster" zu gelangen. Tellkamp beschreibt diese Worte nunmehr als "unsinnig".

Was ist geschehen, was meint er inzwischen?

Er nennt es jetzt "migratorische Gründe" - es sei "ein Mix aus Fluchtgründen, die meist wirtschaftlich determiniert sind". "Ich würde es genauso machen, wenn's mir schlecht geht in Syrien."

Niemandem könne man die Flucht vorwerfen, "wenn ein besseres Leben" gesucht werde. Tellkamp verweist darauf, dass "wir eine Einwanderungspolitik" brauchen würden, "die auf die hiesige Kultur Rücksicht" nehme, weil die Spannungen und Spaltung in der Gesellschaft zunehmen, "was wir an nun Berlin sehen".

Und warum entstand so viel Frust ausgerechnet in Dresden? In Dresden sei das Problem evident, weil "die westdeutsche Elite in Verwaltung, Kunst, Politik und Kultur entscheidende Posten besetzten". Diese trafen auf ein "indigenes, kritisches Volk", das sich 1989 seine Freiheit geholt hat.

Ossis sind "eben auf der Straße", "Wessis verhandeln im Hinterzimmer".

Uwe Tellkamp und Susanne Dagen sind zu "polarisierenden Figuren" geworden

Buchhändlerin Susanne Dagen (50) erklärt in der 3sat-Doku ihre Sicht.
Buchhändlerin Susanne Dagen (50) erklärt in der 3sat-Doku ihre Sicht.  © Christian Juppe

"Ich lass' mich ungern von 'nem zugezogene Wessi bekehren, der Geld geerbt hat, dem hier die Häuser gehören, der mich an der Käsetheke belehren möchte, wie ich zu denken habe", platzt es aus Tellkamp heraus. Die "Moralisierung der Debatten" störe ihn.

"Ich will nicht als Faschist, Vollidiot, rechtes Arschloch hingestellt werden. Das weise ich von mir", sagt Tellkamp im Gespräch mit der befreundeten Buchhändlerin Susanne Dagen (50).

Ihr "Buchhaus Loschwitz" - einst beliebter Treffpunkt der kulturellen Mitte in Dresden - ist zum umstrittenen Ort für neurechtes Gedankengut geworden. Dagen bekommt ebenfalls viel Raum in der Doku. Sie ist inzwischen ebenso "zur Reiz- und Symbolfigur" geworden. "Ich kann meine Klappe nicht halten", sagt sie. "Große Teile von Loschwitz gehören doch inzwischen Westdeutschen."

Schriftsteller Alexander Osang (60, "Die Nachrichten") schrieb im Jahr 2016 im Spiegel: "Sie (Dagen) hält Pegida für einen Ausdruck der nicht bewältigten Ost-Westkonflikte. Die Wessis bestimmten den Diskurs, nicht die Dresdner selbst."

Diese Sätze hätten seither zu Boykott und somit Umsatzeinbußen ihr gegenüber geführt - schildert sie ihre Situation.

Alexander Osangs (60) Worte im "Spiegel" (2016) sieht Buchhändlerin Susanne Dagen (60) als Ausgangspunkt für Anfeindungen ihr gegenüber, die sie seither erlebt,
Alexander Osangs (60) Worte im "Spiegel" (2016) sieht Buchhändlerin Susanne Dagen (60) als Ausgangspunkt für Anfeindungen ihr gegenüber, die sie seither erlebt,  © 3Sat

Wie heilt man "das Ganze" nun? Mit einem Pflaster ist es noch immer nicht getan. Da sind weitere Debatten und Streit-Gespräche sowie Dokumentationen, wie diese - "Der Fall Tellkamp" von Dokumentarfilmer von Andreas Gräfenstein - notwendig. Der Anfang ist gemacht mit dieser Doku auf 3sat, die hier in der Mediathek zu sehen ist.

Titelfoto: 3Sat

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