"Für Tag X": Wie Jugendliche in Sachsen zu Neonazis werden

Zwickau/Leipzig - Hass gegen Minderheiten und Andersdenkende, Gewaltbereitschaft und Vorbereitungen auf einen 'Tag X': Das MDR-Format "exactly" ist tief in rechte Strukturen der sächsischen Städte Zwickau und Plauen eingetaucht – und gibt verstörende Einblicke in die Nachwuchs-Rekrutierung. Doch wie geraten Jugendliche überhaupt in die Fänge von Neonazis und was hat die Corona-Pandemie damit zu tun?

Chris Schlüter engagiert sich im Zwickauer Jugendtreff "Lutherkeller".
Chris Schlüter engagiert sich im Zwickauer Jugendtreff "Lutherkeller".  © Claudia Drescher/dpa-Zentralbild/dpa

Eine 13-Jährige mit Nirvana-Shirt sitzt in einem Zwickauer Jugendtreff auf dem Sofa. "Also ich selbst bin bi. Jeder darf sich in seinem Körper so fühlen, wie er möchte und so lange er sich wohlfühlt, ist es ja auch sein Recht, das preiszugeben, oder nicht? Wie ist eure Meinung zu LGBTQ+? (Anm. d. Red.: Abkürzung für die englischen Begriffe von lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, queer und andere)", fragt sie in die Runde.

Die Antwort, die das Mädchen von einem anderen Jugendlichen bekommt, schockiert: "Also das ist, da bin ich jetzt auch ganz offen und ehrlich, Schmutz, Abschaum."

Es ist eine von vielen bedrückenden Szenen aus der MDR-Doku "Jung, rechts, gewaltbereit".

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Erzieher Chris Schlüter arbeitet in dem Jugendclub und erklärt, dass man bei den jungen Menschen mit Fakten nicht viel erreichen könne – oft gehe es um Gefühle. Deshalb versuche er, durch Gespräche zum Nachdenken anzuregen.

Ein solches Gespräch führt Schlüter auch mit dem 16 Jahre alten Jonas, der sich selbst als rechts versteht. "Findest du es ok, dass Menschen, die sich dieser Community zugehörig fühlen, auf offener Straße angegriffen und verdroschen werden?", fragt der Sozialarbeiter seinen Schützling in Bezug auf LGBT-Personen. Die Antwort ist eindeutig: "Ich finde das ok. Ich würde es wahrscheinlich nicht anders machen, wenn mir da eine Gruppe mit Regenbogenfahnen entgegenkommt."

"Ein totales Spannungsfeld", bezeichnet der Pädagoge den Austausch. Seine Aufgabe sei es zu fragen, "wie schaffen wir es gemeinsam den Weg zu finden, dass du die offene Gesellschaft nicht auf dein Leben anwendest, aber zumindest akzeptierst."

"Wow, heute ist nichts passiert, heute wurde ich nicht angegriffen"

Am 1. Mai mobilisierte die rechtsextreme Partei "Der Dritte Weg" nach Zwickau.
Am 1. Mai mobilisierte die rechtsextreme Partei "Der Dritte Weg" nach Zwickau.  © Sebastian Willnow/dpa

Der ebenfalls 16-jährige Maurice ist queer, trägt auf einer Demo in der Zwickauer Innenstadt lackierte Fingernägel und Glitzer-Steinchen im Gesicht. Er beschreibt seine traurige Alltags-Realität: "Es gibt Tage, da passiert nichts und da bin ich wirklich sehr froh und auch überrascht, wenn ich abends dann zu Hause bin und dann denke, wow, heute ist nichts passiert, heute wurde ich nicht angegriffen, heute hat mir keiner einen dummen Spruch hinterhergerufen."

Laut MDR-Sendung nimmt die Radikalisierung Jugendlicher seit der Corona-Pandemie deutlich zu. Kontakte zwischen Minderjährigen und Rechtsextremen können offenbar leicht geknüpft werden. Über Freizeitangebote junge Leute zu erreichen, scheint dabei Methode zu haben.

Ein weiterer 16-Jähriger, der am 1. Mai mit der rechtsextremen Partei "Der Dritte Weg" in Zwickau demonstrierte, berichtet: "Es ist wie eine kleine Familie dort, einfach das Kameradschaftliche, man hilft sich halt untereinander. Ich finde die Aktionen von denen eigentlich relativ gut. Die bieten für Bedürftige kostenlos Essen an, Kleidung, Spielsachen, dann bieten die kostenlose Nachhilfe an für Kinder, kostenloses Kampfsporttraining."

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Er selbst mache Kickboxen. "Beim 'Dritten Weg' ist es ja eher Selbstverteidigung, die sagen halt immer, für den politischen Straßenkampf." Genauer: "Für Tag X zum Beispiel." Damit sei der "Tag vom Umsturz der Regierung" gemeint.

"Ein gesellschaftliches und auch ein politisches Versagen"

Matthias Quent ist Extremismusforscher an der Hochschule Magdeburg-Stendal.
Matthias Quent ist Extremismusforscher an der Hochschule Magdeburg-Stendal.  © Bodo Schackow/dpa-Zentralbild/dpa

Das MDR-Team blickt auch nach Plauen und trifft sich dort mit Doritta Kolb-Unglaub, die sich in der politischen Bildung engagiert. In der vogltändischen Stadt hat der "Dritte Weg" eine Parteizentrale.

Sie erklärt die Situation zu Corona-Hochzeiten: "Schule war beschränkt, Schule fiel aus, Jugendangebote waren komplett zu." Und der "Dritte Weg" machte weiter Angebote: "Hier konnte man trotzdem noch ein und ausgehen." Von der Tischtennis-Gruppe über den Gitarrenunterricht bis hin zur Hausaufgaben-Betreuung werde sich in die Jugendarbeit eingebracht.

Matthias Quent ist Extremismusforscher. Der Wissenschaftler kritisiert deutlich: "Es ist ein gesellschaftliches und auch ein politisches Versagen, dass gerade auch jungen Menschen so wenig Aufmerksamkeit, so wenig finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, um eigene Räume zu finden, um Angebote zu haben, die eben nicht rechtsextrem sind."

Quent fasst zusammen: "Der Rechtsextremismus ist immer auch eine Antwort auf Schwächen, auf Fehler und auf das Versagen von Gesellschaft und Politik."

Die ganze Sendung könnt Ihr in der MDR-Mediathek sehen.

Titelfoto: Sebastian Willnow/dpa

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