Sollte man das Sitzenbleiben in der Schule abschaffen?

Von Elke Richter

München - Fast jeder vierte Schüler in Deutschland hat im Alter von 15 Jahren bereits einmal eine Klasse wiederholt. Bundesweit besonders weit vorn: Bayern. Am Dienstag wollen die Grünen im Landtag einen Antrag stellen, das Sitzenbleiben im Freistaat abzuschaffen.

In Bayern müssen besonders viele Schüler eine Klasse wiederholen. (Symbolbild)  © Marijan Murat/dpa

Die Erfolgsaussichten liegen zwar bei null, dennoch können sich die Grünen auf gute Argumente stützen.

Über wie viele Schüler sprechen wir überhaupt? Im Schuljahr 2024/25 wiederholten - ohne FOS/BOS - fast 40.000 Kinder in Bayern die Klasse. Rund 17.000 von ihnen hatten keine andere Wahl, 23.000 wiederholten freiwillig. In den Daten sind die Fach- und Berufsoberschulen noch nicht enthalten; im Vorjahr wiederholten dort rund 3300 Jugendliche.

In Summe drehten damit 3,5 Prozent aller Schüler im Schuljahr 2023/24 eine Ehrenrunde. Der bundesweite Schnitt lag bei 2,2 Prozent, Bayern belegte Rang zwei. Im Vorjahr war der Freistaat laut Statistischem Bundesamt gar der Spitzenreiter mit 4,1 Prozent.

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Was spricht für das Wiederholen einer Klassenstufe? Das Sitzenbleiben soll als "zweite Chance" dienen, den verpassten Stoff nachzuholen. "Für einige Schüler und Konstellationen kann es sinnvoll sein, um Kompetenzen zu erwerben und sich für das nächste Schuljahr fit zu machen", erläutert Kai Maaz vom Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.

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Was spricht gegen das Wiederholen einer Klassenstufe?

Schüler mit Migrationshintergründen müssen oft eine Klasse wiederholen, was zeigt, dass soziale Herkunft und Bildungsungerechtigkeit verbunden sind. (Symbolbild)  © Karl-Josef Hildenbrand/dpa

"Es spricht eigentlich nichts dafür und alles dagegen", resümiert der Experte für pädagogische Psychologie von der Hochschule für Gesundheit und Medizin in Berlin, Florian Klapproth.

Wirkung verpufft bald wieder: Die Schulnoten verbessern sich zwar häufig im Wiederholungsjahr. Allerdings verpufft die positive Wirkung bereits ein Jahr später.

Wiederholen verfestigt Bildungsungerechtigkeit: Studien belegen, dass auch leistungsfremde Faktoren die Entscheidung beeinflussen. So bleiben Jungen bei gleicher Leistung häufiger sitzen als Mädchen, ebenso Schüler, deren Eltern ein geringes Einkommen haben oder die einen Migrationshintergrund besitzen. Obwohl Kinder mit ausländischen Wurzeln nur 28,5 Prozent der Schülerschaft ausmachen, stellten sie im Schuljahr 2023/2024 fast 40 Prozent der Wiederholer, betonen die Landtags-Grünen.

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Negative Folgen für Motivation und Selbstwert: Sitzenbleiben kann sich negativ auf die Psyche auswirken. "Es stempelt die Kinder ab, es demotiviert, weil sie das Gefühl haben, sie sind nichts wert", schildert der Vorsitzende des Bayerischen Elternverbands, Martin Löwe.

Sitzenbleiben kostet den Steuerzahler viel Geld: Nach den jüngsten Daten für 2023 gab Bayern 11.300 Euro pro Schüler aus. Die zusätzlichen Jahre durch verpflichtendes und freiwilliges Wiederholen summieren sich somit auf rund 490 Millionen Euro - das Geld, das dem Staat wie den Betroffenen durch den späteren Berufseinstieg entgeht, nicht eingerechnet.

Was wären die Alternativen zum Sitzenbleiben?

Wer in Bayern schlechte Noten bekommt, bleibt sitzen. Geht das auch anders? (Symbolbild)  © Ina Fassbender/dpa

"Kinder und Jugendliche lernen am besten, wenn ihre Stärken gesehen und entwickelt werden und wenn auf die professionelle differenzierte Diagnose von Lernschwächen eine zielgenaue individuelle Förderung folgt", betont die Vorsitzende des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands, Simone Fleischmann.

Auch Wissenschaftler Maaz betont: "Kompensatorische Maßnahmen im Laufe des Schuljahres sind effektiver als das Wiederholungsjahr - wenn sie zielgenau adressiert werden." Leistungsschwache Schüler benötigten andere Lernzugänge statt mehr vom Gleichen.

Dass es anders geht, zeigt der Blick über die (Landes-)Grenze: Hamburg zum Beispiel setzt auf eine kostenlose, verpflichtende Lernförderung statt auf Sitzenbleiben. In Berlin finden Jahrgangsstufenwiederholungen bis zur zehnten Klasse nur in besonders begründeten Ausnahmefällen statt.

Und innerhalb Europas lassen nur Belgien, Holland und Spanien häufiger wiederholen als Deutschland. In allen anderen Ländern ist es deutlich seltener oder kommt wie in Skandinavien gar nicht oder höchstens in Ausnahmefällen vor.

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