Vom Friedhof vertrieben: Neuköllns letzter Steinmetzmeister muss den Knüpfel fallen lassen
Berlin - Schluss nach 76 Jahren für den Neuköllner Traditionsbetrieb: Wo jetzt noch Grabmale in Handarbeit hergestellt werden, plant die evangelische Kirche Gärten – und kündigte dem Steinmetz.
Heute Morgen muss Eberhard Damerau einen Kunden abweisen. Mal wieder, als das Telefon in seinem Neuköllner Steinmetzbetrieb "Schmidt Grabmale" klingelt. "Sie wissen ja, wir müssen aufhören", antwortet der 76-Jährige der Person am anderen Ende der Leitung.
"Das ist jetzt mindestens die zehnte Absage. Schon wieder 2000 Euro. Das wäre jetzt ein Umsatz von insgesamt etwa 30.000 Euro, die ich in den vergangenen zwei Wochen verloren habe, weil wir keine Aufträge annehmen können. Wir müssen vorher die Ware in Indien bestellen und das dauert 14 Wochen", erklärt der Steinmetzmeister mit angenehmer weicher, wenn auch leicht belegter Stimme an diesem schwülen Tag im späten Mai.
Es riecht nach Bohnenkaffee und Maschinenfett, während das gleißende Sonnenlicht durch das Fenster bricht und Steinstaub in der Luft tanzt. Draußen heult die Sirene eines vorbeirauschenden Polizeiautos. Dann wieder Stille.
"Aber es interessiert die Kirche nicht", setzt Damerau räuspernd neu an und schält sich aus dem knarzenden Holzstuhl. Stippvisite einer Frau mit Fahrrad. Sie ist Witwe und ehemalige Kundin. Ein kurzer Plausch, sie wolle gar nicht stören. Sie komme immer montags, mittwochs und freitags vorbei, doch heute ist Dienstag, wundert sich Damerau und beäugt eine massive Steinplatte. Es wird wohl seine letzte Arbeit sein.
Evangelischer Friedhofsverband will das Grundstück nicht länger an Damerau verpachten
Der Ur-Neuköllner, aufgewachsen in der Siegfriedstraße, will nichts beschönigen. Damerau muss den Traditionsbetrieb räumen. Ende Juni ist Schluss.
Nach über 60 Jahren im Betrieb, obwohl der Laden brummt, auch wenn der Trend immer mehr zu anonymem Bestattung ohne Grabmale geht, denn: Der Evangelische Friedhofsverband will das Grundstück nicht länger an ihn verpachten. Noch hängen an den Wänden seiner Werkstatt Kreuze.
Große, kleine, aus Holz, aus Messing, Metall. Überall filigran gearbeitete Grabsteine. Stumme Zeugen eines bewegten Lebens. Damerau bietet eine breite Palette an Leistungen an, nimmt sich ausgiebig Zeit, um seine Kunden zu beraten.
Bei Urnenbestattungen, die mittlerweile ein Drittel aller Bestattungen in Berlin ausmachen, kommen die Steinplatten bereits normiert und vorbereitet von den Friedhofsverwaltungen.
Dabei ist der Inhaber von Grabmale Schmidt in der Hermannstraße bereits vor gut 35 Jahren aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Im Streit über Parkplatzgebühren. Schon bevor ihm die Kirche einen Schlag in die Magengrube verpasste.
Zu seinem Beruf kam Damerau wie die Jungfrau zum Kinde, als er die Schierker Straße hochlief, bei seinem damaligen Meister Willy Schmidt anklopfte und nach einer Ausbildungsstelle fragte.
Seine freundlichen graublauen Augen leuchten, wenn er nach Erinnerungen kramt. Davon hat Damerau viele. Bei den guten huscht ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht.
Eberhard Damerau lernte seine zweite Frau im Steinmetzebtrieb kennen
Seine zweite Frau lernte er im Betrieb kennen. "Da war ich bereits geschieden und hatte ein paar Jahre alleine gelebt. Die hat für ihren verstorbenen Mann einen Stein gekauft, haben uns gut verstanden und dann ist etwas draus geworden", lächelt Damerau. "Ute, die Gute."
"Mein Traumberuf war eigentlich technischer Zeichner, aber der Bruder meines Klassenlehrers war Steinmetz und da ich bei Klassenfahrten immer Gipsfiguren als Gastgeschenk gemacht habe, meinte er: 'Mensch, warum machst du nicht so etwas?'", erzählt Damerau mit leichtem Berlinerisch auf der Zunge, während er den Blick schweifen lässt.
Das war 1961 und Damerau mit der achten Klasse an der Moritz-Schule fertig, die nur einen Steinwurf entfernt ist. Streng sei er gewesen, der Willy Schmidt. "Ob zum Lehrling oder zum Gesellen, er hat diktiert. Er war auch bei der Wehrmacht", blickt Damerau zurück und zupft an seinen vollen grauen Haaren. "Muss da Leutnant gewesen sein, aber er war ein Geradeaus-Mensch."
Diskussionen habe es mit dem alten Schmidt nie gegeben. Noch heute trägt der 1945 aus den Kriegstrümmern gestampfte Betrieb seinen Namen, obwohl sein Lehrherr bereits 11. Juni 1972 bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen ist. Schmidt starb bei einer Bergwanderung. Damerau erlangte schließlich 1983 seine Meisterwürde und übernahm im Januar 2001 die Firma vom damaligen Junior-Chef. Überhaupt habe sich viel geändert, erinnert er sich weiter.
"Wenn ich früher von einer Sitzung kam, brauchte ich keine Angst zu haben"
Die Uhren tickten anders, die Stadt war geteilt, über den Dächern der Werkstatt hier im damaligen Westteil der geteilten Hauptstadt donnerten noch 1948 die Rosinenbomber im Anflug auf den direkt angrenzenden Flughafen Tempelhof.
"Früher war die Hermannstraße eine Flaniermeile, da fuhr noch die Straßenbahn, aber die ganze Bevölkerung hat sich total geändert", beklagt Damerau.
"Wenn ich früher von einer Sitzung kam, brauchte ich keine Angst zu haben. Heute gehe ich hier abends nicht mehr entlang. Ist mir zu gefährlich. Ich wurde einmal von der Polizei nachts um zwei Uhr aus dem Bett geklingelt, weil die Alarmanlage hier losging."
Zuvor dachte Damerau an Ruhestand, aber nicht erzwungen. "Irgendwann muss man auch zu Hause bleiben können. Meine Tochter ist Steinmetz hier im Betrieb, mein Geselle hat auch den Job hier, die hätten das gerne weitergemacht."
Bislang hätten sie noch nichts Neues in Aussicht, aber sie hätten ihrem Chef versprochen, "dass sie bis zum Ende hierbleiben, sonst bin ich ganz hilflos. Ein Ein-Mann-Betrieb", führt Damerau aus und streicht einen Fussel von seinen blauen Jeans.
Doch was kommt nach ihm? Nachfrage beim Evangelischen Kirchendienst Berlin-Mitte. Auf dem Gelände der Werkstatt, das zum 2019 stillgelegten Neuen-Jacobi-Friedhof gehört, sollen wie auf allen Friedhöfen an der Hermannstraße künftig zum Großteil öffentliche Grünflächen erhalten werden, teilte Pressesprecherin Christiane Bertelsmann mit. 2032 dürfe der Friedhof erst neu bebaut werden.
Weitere Zusammenarbeit mit dem ansässigen Prinzessinnengarten geplant
Auch eine weitere Zusammenarbeit mit dem ansässigen Prinzessinnengarten sei geplant, da der Senat nicht die Kosten für Pflege und Gestaltung der Grünflächen trage. Weil Dameraus Grundstück bereits bebaut ist, laufen die Planungen mit den Partnern auf Hochtouren, um sie schon vorzeitig dort anzusiedeln.
Bei dem Prinzessinnengarten handelt es sich um ein Kollektiv, das "eine neue Form des Gemeinschaftsgartens" etabliere und "unterstützen damit die Möglichkeit, diesen Ort als öffentlich zugänglichen Grünraum zu erhalten", ist auf deren Internetseite zu lesen. Ihr Anliegen sei es, "im Einklang mit den Bedürfnissen aller Nutzer*innen den Garten gemeinschaftlich wachsen zu lassen", heißt es dort weiter.
Das Kollektiv meldete zudem Interesse an 65 Quadratmetern auf dem Grundstück des Grabmalbetriebs anmeldete, um dort ein kleines Haus mit einem Tagesraum zu errichten. Beschlossen sei aber noch nichts.
Für Damerau ist das Verhalten der Kirche ein Dorn im Auge, auch wenn er schon seit mehreren Jahren von Plänen weiß und einem sowohl vom Friedhofsverband als auch von ihm unterschriebenen gerichtlichen Vergleich zugestimmte. Dieser besagt, dass das Mietverhältnis zum 30.6.21 beendet wird.
"Du sollst nicht töten"
Und was sagt das Bezirksamt Neukölln? Es bestätigt eine Randbebauung, Teile Grünflächen sollen erhalten werden. Eine Anfrage des Prinzessinengarten für ein kleines Haus mit Tagungsraum schmetterte das Bezirksamt laut Christian Berg, Pressesprecher des Bezirksbürgermeisters, ab.
Damerau, selbst Hobbygärtner und Laubenpieper, aber draußen in Buckow, fühlt sich verschaukelt. Er schüttelt verwundert den Kopf: "Warum wollen sie ausgerechnet unser kleines Stückchen bebauen?"
Dass er den Glauben an die Kirche verloren hat, steht Tage später per Hand in Stein geschlagen in großen Lettern für alle sichtbar im Vorhof von Dameraus 970-Quadratmeter-Betrieb. "Sein Vers", wie er es nennt. Mit "Du sollst nicht töten" ist die Tafel des 76-Jährigen überschrieben. Als mahnendes Beispiel.
"Das 5. Gebot ist nämlich das Leitgebot des Pfarrer Quandt, der das hier alles eingefädelt hat, dass wir heruntermüssen", klagt Damerau. Jürgen Quandt war bis zum 1. Februar 2019 zehn Jahre lang Geschäftsführer des evangelischen Friedhofverbandes Berlin-Mitte. Der Pfarrer hätte zuvor einen Antrag von Dameraus Anwalt auf eine fünfjährige Pachtverlängerung abgeschmettert und dem Steinmetz gekündigt, erklärte der 76-Jährige.
Das Telefon klingelt, Damerau seufzt.
Titelfoto: Denis Zielke/TAG24