Mehr als 40 (!) Operationen: Siebenjähriger überlebt Kugelbomben-Explosion

Von Mia Bucher

Berlin - An Silvester explodiert eine Kugelbombe direkt vor einem Siebenjährigen. Er überlebt nur knapp. Jetzt spricht seine große Schwester zum ersten Mal öffentlich über das, was ihrem Bruder passiert ist.

Cansu Karki, die ältere Schwester des Kugelbomben-Opfers, hat jetzt erstmals mit der Presse über den Vorfall in der vergangenen Silvesternacht gesprochen.  © Soeren Stache/dpa

"Ich glaube, ich sterbe jetzt." Das waren die letzten Worte des Jungen. Dann verlor er das Bewusstsein. So erzählt es seine Schwester Cansu Karki fast ein Jahr nach dem tragischen Vorfall, der sich in der vergangenen Silvesternacht in Berlin ereignete. Dass er überlebt hat, grenzt an ein Wunder, sagen die Ärzte.

"Kugelbomben sind keine normalen Feuerwerkskörper. Das sind Sprengkörper, die töten und Leben bedrohen können", sagt Karki, die selbst Ärztin an der Charité ist, der Deutschen Presse-Agentur. Ihr Bruder musste mehr als 40 Mal operiert werden. "Wir haben irgendwann aufgehört, zu zählen."

Die große Schwester war bei dem Unfall nicht dabei. Kurz nach Mitternacht erhielt sie einen Anruf. "Komm bitte sofort in die Rettungsstelle. Deinem Bruder geht es nicht gut." Sie sei sofort losgefahren. Was genau passiert war, erfuhr sie erst einige Tage später, als ihre Mutter ihre Worte wiederfand.

Berlin Lokal Chanukka am Brandenburger Tor: Polizei erlässt Versammlungsverbot

Ihr kleiner Bruder hatte Silvester zusammen mit den Eltern, dem älteren Bruder (22) und dessen Frau verbracht. Insgesamt sind es vier Geschwister, der kleine Bruder ist das Nesthäkchen. Wie jedes Jahr sei die Familie aus Tegel um Mitternacht vor die Tür gegangen, um sich das Feuerwerk anzuschauen.

"Es habe einen lauten Knall gegeben, danach sei plötzlich alles stockdunkel gewesen, man habe überhaupt nichts mehr sehen können", gibt Karki die Schilderungen ihrer Mutter wieder.

Anzeige

Junge erleidet "schwerste Verletzungen", die man sonst "aus Kriegsgebieten" kennt

Martina Hüging, Kinderchirurgin an der Charité, hat dabei geholfen, dem Siebenjährigen das Leben zu retten.  © Soeren Stache/dpa

"Meine Mutter hat sofort nach meinem Bruder geschrien und nur gesehen, wie er zu Boden stürzte." Kurz darauf habe es einen zweiten Knall gegeben. Die Kugelbombe explodierte zwischen den Beinen des Jungen, so erzählt es die Schwester heute.

Der kleine Junge aus Berlin wäre durch die Wucht der Explosion fast gestorben. "Er hatte so viel Blut verloren, dass er vor Ort fast verblutet wäre", sagt Martina Hüging, Kinderchirurgin an der Charité und mitbehandelnde Ärztin.

Bekannte versuchten sofort, den damals Siebenjährigen wiederzubeleben. Schnell wurde er in die Notaufnahme der Charité am Campus Virchow-Klinikum gebracht. Dass diese nicht zu weit weg lag, rettete ihm vermutlich das Leben, sagt Hüging. In einer ländlichen Region hätte es anders ausgehen können.

Berlin Lokal Nichts für Warmduscher: Weihnachtsschwimmen im eiskalten Orankesee

"Er hatte schwerste Verletzungen, die man sonst eigentlich nur von Berufsunfällen kennt, zum Beispiel bei schweren Gasexplosionen oder aus Kriegsgebieten."

Seine Beine wurden durch die Explosion regelrecht zerfetzt. Muskeln und Knochen lagen frei und wurden zum Teil zertrümmert, dazu kamen Verbrennungen und offene Wunden auch an den Händen.

Siebenjähriger mehr als einen Monat im künstlichen Koma

Nachbarn gedenken des schwer verletzten Jungen und der anderen, die bei der Explosion der Kugelbombe in der Wohnsiedlung am Emstaler Platz verletzt wurden.  © Jens Kalaene/dpa

"In den ersten Tagen war das eigentlich von Tag zu Tag die Frage, ob er überleben wird", so Hüging. "Das war eine hochdramatische Situation." Sie habe noch nie derart schwere Verletzungen durch Feuerwerkskörper gesehen.

Einige Tage nach Silvester kam es infolge der Verletzungen außerdem zu einer schweren Hirnblutung, sodass in einer Notoperation ein Teil der Schädeldecke des Jungen vorübergehend entfernt werden musste.

Über einen Monat lang lag er im künstlichen Koma, wurde beatmet und bekam dafür einen Luftröhrenschnitt. Auch ein künstlicher Darmausgang musste aufgrund der großflächigen Wunden angelegt werden.

Das Ziel sei zunächst das Sichern seines Überlebens gewesen und zugleich habe man versucht, seine Beine zu retten, sagt Hüging. Beides ist dem interdisziplinären Ärzteteam der Charité gelungen. Ende Januar erwachte der Junge langsam aus dem künstlichen Koma.

"Er hat die ganze Zeit gefragt, was passiert ist", erzählt seine Schwester. Nach und nach berichtet seine Familie ihm, was passiert war. An den Knall könne er sich noch erinnern, danach an nichts mehr.

Anzeige

17-Jähriger soll Kugelbombe gezündet haben

Ein 17-Jähriger soll die gefährliche Kugelbombe gezündet haben, die den Jungen beinahe das Leben gekostet hätte. (Symbolfoto)  © Federico Gambarini/dpa

Ein damals 17-Jähriger steht im Verdacht, kurz nach Mitternacht inmitten einer Menschenmenge "den pyrotechnischen Gegenstand in einem Abschussrohr aus Glasfaserkunststoff gezündet zu haben", wie es seinerzeit von Polizei und Staatsanwaltschaft hieß.

Im Januar gab es bei dem Tatverdächtigen eine Untersuchung. Die Ermittlungen dauern an. Der Familie dauert das alles zu lange. Sie habe das Gefühl, der Fall werde nicht mit ausreichend Priorität behandelt, sagt Karki.

Ihr Bruder ist inzwischen acht und hat sich ins Leben zurückgekämpft. Nach vier Monaten konnte er im April aus dem Krankenhaus entlassen werden und kam in die Reha.

Inzwischen geht er wieder in die Schule. "Ihm geht es zum Glück gut", sagt Karki. "Er ist sehr fröhlich, er ist aktiv, lacht viel und hat immer viel Redebedarf." Er könne wieder laufen und brauche keinen Rollstuhl mehr.

Was bleibt, sind die Narben an den Beinen. Er sei ängstlicher als früher. "Nachts kann er nicht alleine schlafen." Er gehe regelmäßig in die Traumaambulanz der Charité. Dieses Jahr verbringt die Familie Silvester im Ausland.

Mehr zum Thema Berlin Lokal: