Chemnitz - Antrag gestellt, vier Wochen Funkstille – und danach? Meist: weiter warten. Wer in Chemnitz Sozialleistungen beantragt, braucht Geduld. Viel Geduld. Und vor allem eines: eigenes Geld zum Überbrücken. Denn Vorschüsse gibt's so gut wie nie.
Das Rathaus winkt ab. Vorschüsse seien laut Gesetz theoretisch möglich, aber in der Praxis kaum machbar, so Sozialbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky (65, parteilos): kein Personal, keine Kapazität, zu viel Aufwand. "Wir müssen uns um die laufende Bearbeitung kümmern", heißt es. Übersetzt: erstmal abarbeiten, dann nachdenken. Selbst wenn Antragsteller in akuter Not sind.
Dabei geht's um mehr als Papierkram: Wer keine Leistungen bekommt, kann keine Miete zahlen, keinen Einkauf machen – und im schlimmsten Fall wird der Platz im Pflegeheim gekündigt.
Linken-Fraktions-Chefin Susanne Schaper (47) ist empört: "Wenn Anträge teilweise bis zu neun Monate brauchen, muss man wenigstens über Vorschüsse ernsthaft nachdenken!"
Sie fordert: Personal aufstocken, Vorschusszahlungen ermöglichen – und nicht einfach die Verantwortung "wegverwalten". "Wir dürfen die Menschen in ihrer Not nicht alleinlassen. Das ist keine Verwaltungsfrage – das ist eine Frage der Haltung!"
Keine Zeit für Floskeln
Kommentar von Raik Bartnik
Wer kein Geld hat, braucht Hilfe – nicht irgendwann, sondern sofort. Wenn Anträge auf Sozialleistungen wochen- oder monatelang unbearbeitet bleiben, ist das nicht nur eine organisatorische Schwäche. Es ist ein Risiko. Für volle Kühlschränke, für sichere Wohnungen, für Pflegeheimplätze. Und genau deshalb ist die Frage nach Vorschusszahlungen so wichtig.
Die Antwort der Stadtverwaltung? Vorschüsse seien schwierig, aufwendig, nicht vorgesehen – jedenfalls nicht in der Praxis. Das Sozialamt sei überlastet, es fehle an Personal, alles sei kompliziert. Doch was dabei übersehen wird: Menschen in Not haben keine Zeit für Verwaltungsfloskeln. Sie brauchen das Geld, auf das sie Anspruch haben – jetzt.
Wer den Vorschuss verweigert, muss auch sagen: Was soll der Mensch dann machen? Die Stromrechnung offen lassen? Die Apotheke vertrösten? Oder gleich beim Amt anrufen und sagen 'Ich habe kein Geld für Essen, aber viel Verständnis für Ihre Personalsituation ...'? So funktioniert Solidarität nicht.
Sozialbürgermeisterin Dagmar Ruscheinsky muss sich diese Kritik gefallen lassen. Sie hat kein Problem mit unbezahlten Rechnungen. Kein Problem mit einem leeren Kühlschrank. Sie hat ein Büro – und offenbar keinen Plan für alle, die keines mehr haben. Was wir brauchen, ist nicht mehr Mitleid, sondern mehr Machbarkeit.
Und eine Verwaltung, die sich fragt: Was passiert eigentlich mit dem Menschen am anderen Ende des Formulars?