Als "Neutrum" zum Außenseiter verdammt: Staatsschauspiel zeigt das Leben von "Toto"

Dresden - DDR 1966: Toto kommt ohne Geschlechtsmerkmale zur Welt, als "Neutrum" zum Außenseiter verdammt, anfangs im Osten, später im Westen. Regisseurin Sophie Y. Albrecht hat das Stück "Toto oder Vielen Dank für das Leben" von Sibylle Berg nach deren eigenem Roman (2012) neu auf die Bühne gebracht - thematisch heillos überfrachtet, dafür ein wahres Schauspielfest. Premiere war am Samstag im Kleinen Haus 3.

Toto (Josephine Tancke) - nicht Mädchen, nicht Junge - wird in Albträumen von Fischfiguren heimgesucht.
Toto (Josephine Tancke) - nicht Mädchen, nicht Junge - wird in Albträumen von Fischfiguren heimgesucht.  © Sebastian Hoppe

Die Mutter will Toto nicht, geboren weder als Junge noch als Mädchen. Toto kommt erst ins Heim, wo es gemobbt wird, dann in den Kuhstall einer brutalen Pflegefamilie auf dem Bauernhof.

Toto flieht in den Westen, wird als ausgebeutete Putzkraft einer Erotik-Kaschemme auf der Reeperbahn zum Gesangstalent.

Regisseurin Albrecht hat das figurenreiche Stück für vier Schauspieler eingedampft, von denen drei mehrere Rollen übernehmen. Alexander Diosegi vom Schauspielstudio legt seine Figuren, insbesondere Totos kindlicher Kinderheim-Liebe Kasimir, weitgehend leise an.

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Raiko Küster (etwa als cholerischer Pflegevater) und Betty Freudenberg (als Mutter, Kinderheim-Leiterin mit Margot-Honecker-Charme oder Reeperbahn-Bordellwirtin) geben in ihren Rollen dem Affen ordentlich Zucker, überspitzen die Karikaturen menschlicher Scheusale gnadenlos, das aber mit vibrierend-berstender Spielfreude. Alle drei agieren auch als wechselnde Erzähler, die Toto mal als "sie", meist als "er" bezeichnen.

Zu viele Themen nicht ausgespielt

Intensiv in vielen Nebenrollen: Alexander Diosegi und Betty Freudenberg.
Intensiv in vielen Nebenrollen: Alexander Diosegi und Betty Freudenberg.  © Sebastian Hoppe

Toto selbst scheint die wohl undankbarste Figur zu sein, staunend und dauerlächelnd wie ein "Forrest-Gump"-Simpel duldsam durch die Zeiten gleitend. Diesen passiv-milden Part gibt ausgerechnet Josephine Tancke, die bisher weitgehend in eher aggressiven Rollen glänzte (etwa im Erfolgsstück "Nullerjahre").

Sie holt bravourös heraus, was machbar ist: Anfangs ihre körperlich akrobatische Geburt, dann dauerhaft mimisch schillernd. Dazu singt und musiziert sie - erst am "Mikro an der Forke" das New-Wave-Pop-Stück über "Kühle Kühe" (Musik: Michael Mühlhaus), später als Chanteuse am Klavier oder einmal als glamouröse Nachtclub-Sängerin in weißem Feder-Jäckchen plus hoher goldener High-Heel-Stiefel - hinreißend!

Meist spielt Tancke im Sport-Outfit (Kostüm: Chiara Schmidt), wird heimgesucht von Albtraumgestalten mit riesigen Fischköpfen. Das bewegliche Halbrund der Bühne (Pauline Malack) ist mal Mauer, mal transparente Fensterfront. Dahinter ein Spielplatz-Gerüst, auch als Käfig zu verstehen.

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Die auf kompakte 90 Minuten eingedampfte Bühnenfassung reduziert allerlei Menschenfeindlichkeiten der zynischen Vorlage Bergs, lässt aber immer noch zu viele Themen übrig, die angerissen, aber nie ausgespielt werden. Noch weniger wäre hier mehr gewesen. Immerhin wird ein Happy End mit Kinderfreund Kasimir angedeutet. "Ich bin ein Problemmensch, das habe ich schon verstanden", sagt Toto. Aber müsse man immer mit den Zuschreibungen als Mann oder Frau leben?

Schön ausgestattet, wunderbar gespielt: begeisterter Applaus vom Premierenpublikum.

Titelfoto: Sebastian Hoppe

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