Debüt an der Semperoper: Interview mit der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv
Dresden - Oksana Lyniv (47) gehört zu den besten Dirigentinnen unserer Zeit. Nachdem sie 2021 bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth debütierte, ist sie auch eine der prominentesten. Seit 2022 ist sie Generalmusikdirektorin des Teatro Comunale di Bologna.

Die Ukrainerin kam während der Sowjetzeit zur Welt, Dirigieren studierte sie zunächst in Lwiw (Lemberg) und später in Dresden. Aktuell debütiert Oksana Lyniv an der Semperoper in Tschaikowskis "Eugen Onegin".
Noch zwei Vorstellungen am heutigen Mittwoch und am Freitag stehen an sowie vier weitere Aufführungen Ende August und Anfang September.
TAG24: Frau Lyniv, Sie debütieren zurzeit an der Semperoper. Was bedeutet das für Sie?
Oksana Lyniv: Dresden ist eine Musikstadt großer Tradition, die Staatskapelle eines der ältesten Orchester Deutschlands mit bald 480-jähriger Geschichte. Und die Semperoper ist natürlich auch eines von den schönsten Häusern der Welt. Wenn man das Gastdirigentenzimmer betritt, sieht man gleich die Porträts von den Dirigenten und Komponisten, die im Haus gearbeitet haben, wie zum Beispiel Heinrich Schütz, Carl Maria von Weber bis Richard Wagner, Richard Strauss und Karl Böhm. Es ist sicherlich wichtig für jede Dirigentin und jeden Dirigenten, hier aufzutreten.
Oksana Lyniv war musikalische Assistentin an der Bayerischen Staatsoper

TAG24: Vor vier Jahren waren Sie die erste Frau, die bei den Wagner-Festspielen in Bayreuth dirigiert hat - waren Sie jemals nervöser?
Oksana Lyniv: Natürlich ist jeder Auftritt an wichtigem Ort aufregend. Man trifft ein neues Haus, ein neues Orchester, ein anderes Publikum, eine andere musikalische Tradition. Diese spannende Aufregung gehört für mich immer dazu. In Bayreuth zu dirigieren, ist etwas ganz Besonderes, nicht nur wegen des weltweiten Prestiges. Es ist eine besondere Herausforderung für jeden Dirigenten und jede Dirigentin, mit der Spezifik der Bayreuther Akustik, die wegen der einzigartigen Konstruktion des Festspielhauses entsteht, zu arbeiten. Ich hatte damals schon über zehn Jahre Opernerfahrung in verschiedenen Häusern Europas, aber in Bayreuth kann man sich bis zum Moment der Bühnenorchesterprobe nur ungefähr vorstellen, wie die Interpretation funktioniert - ausprobieren lässt es sich vorher nirgendwo. Wie wir wissen, haben selbst einige große Dirigenten dort Schwierigkeiten gehabt und sind nur ein Jahr beim Wagner-Festival aufgetreten. Die Corona-Zeit war eine zusätzliche Herausforderung, weil der Chor nicht wie gewohnt auf der Bühne singen durfte, sondern in speziellen Boxen mit Live-Übertragung aus einem Nebengebäude. Umso glücklicher war ich, dieses Debüt gut zu überstehen und wieder eingeladen zu werden. Das Jubiläumsjahr 2026 wird übrigens schon mein fünftes Jahr in Bayreuth sein.
TAG24: Wie oft haben Sie "Eugen Onegin" schon dirigiert?
Oksana Lyniv: Meine erste Erfahrung mit "Eugen Onegin" hatte ich während meiner vierjährigen Zeit als musikalische Assistentin des Generalmusikdirektors Kirill Petrenko an der Bayerischen Staatsoper. 2017 war dieser Titel meine Einstandspremiere als Chefdirigentin der Oper Graz. Übrigens war damals Nora Schmid die Intendantin, und das war auch unsere erste Zusammenarbeit. Außerdem waren einzelne Nummern und Szenen aus "Eugen Onegin" immer wieder Teil verschiedener Konzertprogramme.
Von der Musikakademie in Lwiw an die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber in Dresden
TAG24: Wie kommen Sie klar in der Semperoper?
Oksana Lyniv: Obwohl diese Produktion schon acht Jahre lang nicht mehr gespielt wurde, spürt man von der ersten Sekunde, dass man hier mit einem großartigen Orchester arbeitet. Die Musikerinnen und Musiker reagieren fantastisch auf die Sängerinnen und Sänger und spielen unglaublich sensibel. Die Partitur von "Eugen Onegin" ist technisch gesehen keine besonders schwere Musik. Wie sogar Tschaikowski selbst sagte, ist es keine Oper, es sind mehr "lyrische Szenen". In der Partitur gibt es viele Stellen, die seelische Abgründe, intime Träume, brennende Leidenschaft und inneres Sehnen von Protagonisten beschreiben. Um die ganze Palette der feinsten Nuancen auszudrücken, passt der besondere samtige Klang der Staatskapelle sehr schön. Es ist auch eine große Freude, mit dem Staatsopernchor zu arbeiten - man spürt die Begeisterung, dieses Werk wieder aufzuführen. Außerdem haben wir ein hervorragendes junges Solistenquartett, das in dieser Produktion ebenfalls debütiert.
TAG24: Sie haben in den 2000er-Jahren eine Zeit lang an der Dresdner Musikhochschule studiert. Welche Erinnerungen haben Sie daran?
Oksana Lyniv: 2005 habe ich die Musikakademie in Lwiw abgeschlossen und beim Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb den 3. Preis gewonnen. Mein Auftritt in Bamberg war damals meine erste Reise nach Deutschland, und ich habe sofort beschlossen, meine Ausbildung hier fortzusetzen. Ich hatte den Traum, mich weiter im deutschen Fach zu entwickeln, Deutsch zu lernen. Eine meiner größten Motivationen war es, die Sprache von meinen Lieblingskomponisten zu verstehen und zum Beispiel Mozarts Briefe im Original lesen zu können. Später kam es zum Kontakt mit Herrn Professor Klemm in Dresden - ich habe die Aufnahmeprüfungen an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber bestanden und ein Stipendium des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst, Red.) erhalten. Am Ende bin ich vier Jahre in Dresden geblieben.
TAG24: Sie waren bei Ekkehard Klemm in der Meisterklasse. Besteht der Kontakt noch?
Oksana Lyniv: Ja, den Kontakt zu Herrn Klemm habe ich nie abgebrochen. Bei Gelegenheit tauschen wir uns bis heute zu fachlichen Fragen aus. Er ist eine der ersten Personen in meinem Umfeld, die von meinen wichtigsten Einladungen erfahren, noch bevor sie veröffentlicht werden. Er war auch bei meiner Aufführung in Bayreuth zu Gast. Natürlich wird er meine Vorstellungen hier in Dresden besuchen. 2020 hat Herr Klemm mich eingeladen, mit dem Orchester in meiner ehemaligen Hochschule zusammenzuarbeiten. Später kam durch ihn der Kontakt zur Sächsischen Akademie der Künste zustande, die mich zum Ehrenmitglied ernannt hat. Gerade in den ersten Jahren seit Beginn der russischen Invasion hat diese Verbindung eine besondere Rolle gespielt: Die Akademie hat damals zwei sechsmonatige Stipendien in der Wagner-Villa in Graupa für ukrainische Künstlerinnen ermöglicht - für die Dirigentin Natalia Stets und die Regisseurin Maryna Ryzhova. Ich war auch selbst in Graupa zu Gast.
Krieg in der Ukraine fühlt sich wie eine Parallelwelt an
TAG24: Für viele Menschen außerhalb der Musikszene ist es immer noch bemerkenswert, eine Frau dirigieren zu sehen. In der Musikszene ist das längst selbstverständlich, oder?
Oksana Lyniv: Die Zahlen von Dirigentinnen oder Intendantinnen bei führenden Orchestern und Opernhäusern weltweit sprechen für sich. Es gibt viele positive Entwicklungen. Zum Beispiel bin ich eingeladen, als Präsidentin bei dem La Maestra International Competition for Women Conductors 2026 mitzuwirken. Das Besondere im Wettbewerb ist, dass es keine Altersbegrenzung für die Teilnahme gibt. Frauen, die vielleicht früher keine Chance bekommen haben oder sich nicht getraut hätten, können sich bewerben - unabhängig vom Alter. Außerdem bietet der Wettbewerb den Preisträgerinnen eine zweijährige Begleitung in den Karriereeinstieg, was sehr wichtig ist. Denn es ist nicht das Schwierigste, einen Preis zu gewinnen - sondern tatsächlich, im Beruf Fuß zu fassen.
TAG24: Fühlen Sie sich als Dirigentin kritischer beurteilt als ein Dirigent?
Oksana Lyniv: In unseren Zeiten öffentlich nicht mehr. Es ist aber lehrreich, die Presseartikel aus den früheren Jahrhunderten zu lesen. Es ist erschreckend, wie die Frauen als Berufsmusikerinnen beurteilt wurden - heute wäre das unvorstellbar. Zum Glück bemüht sich die Musikwelt jetzt, Künstlerinnen und Künstler gleich zu bewerten. Man sieht darin eine positive Wende.
TAG24: Sie sind Ukrainerin, in der Sowjetunion geboren. Der Krieg in Ihrer Heimat muss schwer auf Ihnen lasten. Auf welche Weise beeinflusst das Ihre Arbeit?
Oksana Lyniv: Es ist wie eine Parallelwelt. Auf der einen Seite stehe ich auf den großen Bühnen und trete in renommierten Theatern auf. Auf der anderen Seite lese ich ständig Kriegsnachrichten, Berichte von Freunden und Angehörigen und fürchte um ihr Leben. Deswegen ist jedes Zeichen der Solidarität weltweit weiterhin so wichtig für uns. Mich hat besonders berührt, als im Juni 2023 das Ensemble der Dresden Chamber Soloists nach Lwiw kam. Das war eine Initiative von Federico Kasik, dem Stellvertretenden 1. Konzertmeister der Staatskapelle. Er hat früher an der dortigen Musikakademie studiert und 2023 seine Kollegen aus der Staatskapelle eingeladen, bei Konzerten und Meisterklassen in Lwiw mitzuwirken. Mein größter Wunsch ist, wenn der Frieden kommt, dass wir gemeinsam durch die Musik neue Brücken bauen können. Übrigens findet die nächste Probenphase des von mir gegründeten und geleiteten Jugendsinfonieorchesters der Ukraine in Dresden in der Musikhochschule statt. Ich bin der Hochschule für diese wertvolle Möglichkeit sehr dankbar. Wir werden uns auf wichtige Auftritte in Bratislava, der Schweiz und Kronberg vorbeireiten. Es wäre fantastisch, wenn einige Musiker der Staatskapelle als Dozenten dazukommen könnten. So einen Kontakt zu haben, wäre sicherlich eine unvergessliche Erfahrung für junge ukrainische Musiker:innen.
TAG24: Im besten Fall entsteht jetzt zwischen Ihnen und der Staatskapelle eine wunderbare Freundschaft. Gibt es Pläne für weitere Projekte mit Semperoper und Staatskapelle?
Oksana Lyniv: Im Moment konzentriere ich mich erst mal auf weitere Vorstellungen - aber ich würde mich natürlich immer sehr freuen, nach Dresden, in die Stadt, der ich mich so verbunden fühle, zurückzukehren.
Titelfoto: imago/CTK Photo