Martina Gedeck im Dresdner Schauspielhaus: "Gedichte soll man nicht vorlesen"
Dresden - Martina Gedeck (62, "Das Leben der Anderen") zählt zu Deutschlands populärsten Schauspielerinnen in Film und Fernsehen. Auf der Theaterbühne ist sie meist in Leseabenden zu erleben, so am Freitag im Schauspielhaus in Dresden mit Gedichten, Briefen und Erzählungen "Zur Kindheit". TAG24 sprach mit Martina Gedeck zur besonderen Kunst des literarischen Vortrags.
TAG24: Frau Gedeck, Auftritte wie Ihrer nennen die einen Lesung, die anderen Rezitationsabend, andere wieder Spoken Word Performance – zu welchem Begriff neigen Sie?
Martina Gedeck: In dieser speziellen Ausführung würde ich zu Lesung neigen. Wobei: Gedichte trage ich frei vor, ich brauche dabei den Kontakt zum Publikum. Das sind so kleine, funkelnde Juwelen, die man nicht ablesen sollte, denn für die Zuhörer sollen sich Räume öffnen, es entstehen bei mir und ihnen Bilder, die wirklich eine Verbindung schaffen. Eine Erzählung von Herta Müller ist mit im Programm, die lese ich tatsächlich vor, die ist zu lang für einen freien Vortrag. Was mich besonders freut: Zwei wunderbare Gitarristen von der Dresdner Musikhochschule sind mit dabei, Dorotea Dolenec und Viktor Stryapin, die den Abend musikalisch begleiten, sie spielen spanische und südamerikanische Komponisten, wie Albeniz, Piazolla und Moscardini.
TAG24: Wie kommt das Thema zur Künstlerin? Werden Sie angefragt, oder gehen Sie an Agenten oder Veranstalter heran?
Martina Gedeck: Beides. In diesem Fall hatte es das Staatsschauspiel vorgeschlagen. Vor einem Jahr war ich ja schon einmal da, und ich wurde gefragt, ob wir es wiederholen wollen. Natürlich! Ich liebe Rezitationsabende sehr, weil ich dann abseits des Films die Möglichkeit habe, dem Publikum zu begegnen und etwas in die Herzen der Zuschauer zu pflanzen. Es sind innige Abende. In einem Poesievortrag kann man als Schauspieler in besonderer Weise die Fantasie des Zuschauers entzünden. Das Thema hat man mir aber freigestellt.
Martina Gedeck: "Muss keine schwierige Kindheit gehabt haben, um daraus Bogen zu ziehen"
TAG24: Es geht um Kindheit. Warum dieses Thema?
Martina Gedeck: Im Laufe meines Lebens sind mir immer wieder Kindheitsgeschichten untergekommen, die mir viel bedeuten. Texte, die zeigen, dass das Kind, das man war, in einem lebendig bleibt. Ich bin immer wieder überrascht, wie sich die Wahrnehmung der Kindheit bei den Schriftstellern ähnelt. Elke Lasker-Schüler hat das Gedicht geschrieben, das dem Programm den Titel gibt, "Zur Kindheit". Da spricht sie zu ihrer Kindheit, dass sie bei ihr bleiben soll, dass sie ihre Kindheit zum Leben braucht. Sie ist ohnehin meine Lebensdichterin. Ich denke, für eine Lesung im November ist es schön, etwas Leichtes, Poetisches, Berührendes zu hören, dass es nicht zu dunkel wird.
TAG24: Sie haben eine vertrauensvoll-harmonische Kindheit erlebt. Lässt sich daraus Reibung ziehen, die künstlerisch fruchtbar gemacht werden kann?
Martina Gedeck: Natürlich. Ich bin auf dem Land groß geworden, in Bayern, und habe sicherlich das erlebt, was jedes Kind erlebt. Für ein Kind gibt es immer das große Unbekannte, die Angst vor dem Einschlafen, das Nichtverstehen der Erwachsenenwelt. Für Kinder ist die Welt noch ein Rätsel: Was macht sie mit mir, wer bin ich darin, wo ecke ich an, wo füge ich mich ein? Man muss keine schwierige Kindheit gehabt haben, um daraus einen Bogen zu ziehen, aus dem sich die künstlerische Arbeit speist. Meine Kindheit war sehr schön, aber Abgründe gab es auch …
Martina Gedeck: "Das sind sehr schöne, intensive Stunden auf der Bühne"
TAG24: Was ist der Schwerpunkt Ihres Programms?
Martina Gedeck: Der Haupttext ist von Herta Müller, aus ihrem Buch "Niederungen", mit dem sie 1984 ihren Durchbruch hatte. Dazu kommen Prosastücke von Yasmina Reza und eine sehr spannende und auch lustige Erzählung von Samanta Schweblin, einer argentinischen Autorin, die in Berlin lebt. Eine unglaublich tolle Erzählerin. Und die Gedichte natürlich.
TAG24: Da steht zunächst Rilke. Was bedeutet er Ihnen?
Martina Gedeck: Viel, Rilke ist oft bei mir im Programm. Er hat ein wunderschönes Gedicht zur Kindheit geschrieben (rezitiert spontan): "Du musst das Leben nicht verstehen, dann wird es werden wie ein Fest." Dazu auch Auszüge aus Walter Benjamins "Berliner Kindheit 1900". Da erinnert er sich an vieles, was für ein Kind bedeutsam ist, das Karussell, der Weihnachtsbaum …
TAG24: Mit Lesungen oder dem Einsprechen von Hörbüchern arbeiten Sie ohne die Mittel von Gestik und Mimik – ist es dennoch Schauspiel, nur mit anderen handwerklichen Mitteln?
Martina Gedeck: Ja, absolut! Es gibt nichts: kein Bühnenbild, kein Kostüm, keine Partner ... Das Einzige, was trägt, ist die reine Vorstellungskraft, und da ist das Handwerk sogar wichtiger als etwa beim Film. Wenn ich das, was ich vortrage, nicht selber durchlebe und fühle, wird auch der Zuschauer nichts empfinden. Da ist eine gewisse Virtuosität gefragt. Man ist als Schauspieler stärker gefordert, denn ich sitze ja nicht allein und unbeobachtet in einem Studio. Ich stehe auf der Bühne und spreche das Publikum direkt an. Es ist eine Facette des Berufes, die den Kern meiner künstlerischen Leidenschaft ausmacht. Das sind sehr schöne, intensive Stunden auf der Bühne.
Martina Gedeck: "Es geht nicht nur um Applaus"
TAG24: Wenn Sie Gedichte und Briefe lesen, geben Sie anderen Künstlern eine Stimme. Nähern Sie sich diesen Verfassern so an, wie Sie sich auch Filmrollen erarbeiten?
Martina Gedeck: Ja, man lebt und denkt sich in die Menschen, in die Figuren hinein. Wenn ich dann beim Sprechen in meiner Fantasie ein Bild entstehen lasse, überträgt es sich sofort auf den Zuschauer.
TAG24: Sie arbeiten hauptsächlich beim Film. Sind Lesungen vor Publikum also eine andere Art, Applaus zu bekommen?
Martina Gedeck: Hoffentlich, ja! (lacht). Aber es geht nicht nur um Applaus, es geht um die Freude, auf der Bühne zu sein. Es ist eine Begegnung. Geschichten zu hören, den Worten und Gedanken nachzuhorchen, das ist für mich wie ein Fest. Und das verbindet mich mit dem Publikum, das ist mir wichtig.
Titelfoto: Bildmontage: Hendrik Schmidt/dpa, Sony Pictures/Courtesy Everett Collection