Leipziger Professor Dirk Oschmann: "Mein Buch ist keine Wohlfühlprosa"

Leipzig - Der Leipziger Literatur-Professor Dirk Oschmann (55) entfachte in diesen Tagen einen deutsch-deutschen Debattensturm. Sein zorniges Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" erregt landesweit die Gemüter der Feuilleton-Schreiber der großen Tageszeitungen, TV-Redakteure und Radiomoderatoren ebenso wie die Blattmacher vom "Spiegel". Denn Dirk Oschmann greift in seinem Buch Macht-Eliten, Medien und Politik frontal an.

Der Leipziger Germanist Dirk Oschmann (55) übt mit seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" frontal Kritik. Seiner Meinung nach wird der Osten Deutschlands systematisch benachteiligt.
Der Leipziger Germanist Dirk Oschmann (55) übt mit seinem Buch "Der Osten: eine westdeutsche Erfindung" frontal Kritik. Seiner Meinung nach wird der Osten Deutschlands systematisch benachteiligt.  © Montage: Ullstein

Das Buch wiederum stellt eine erweiterte Fassung seines FAZ-Artikels "Wie sich der Westen den Osten erfindet" dar, der im Februar 2022 erschien. Der Beitrag erfuhr damals ein so gewaltiges Echo, dass sich der Germanist gedrängt sah, nachzulegen und sich zu erklären.

Im Gespräch mit TAG24-Redakteurin Pia Lucchesi (49) erläutert Dirk Oschmann, warum er glaubt, dass der Osten keine Zukunft hat, solange er nur als Herkunft begriffen wird.

TAG24: Herr Oschmann, ich gebe zu, ich fremdle mit Ihrem Buch. Bitte ordnen Sie für mich Ihr Werk ein. Ist es eine Schmähschrift? Ein zu Papier gebrachter Wutausbruch oder eine bittere Abrechnung Ihrer Lebenserfahrung?

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Dirk Oschmann: Das Buch ist das Ergebnis eines schon lange aufwallenden Zornes. Das hat etwas damit zu tun, dass mir in den letzten Jahren die Ungleichheit zwischen West und Ost als Verstetigung immer bewusster geworden ist. Es ist in einem scharfen Ton gehalten, denn es hat den Zweck, diese Ungerechtigkeit ins Blickfeld zu rücken.

TAG24: Hatten Sie beim Schreiben eine Personengruppe vor Augen, die Sie ansprechen wollen?

Dirk Oschmann: Nein. Das ist ein Buch, das alle lesen sollen. Denn wenn Sie politisch interessiert sind, müssen Sie sich mit dem Thema beschäftigen.

"Für Sonntagsreden ist die Politik zuständig"

Die Auerbacher Hausfrau Regina Zindler (75) wurde Anfang der 2000er-Jahre durch den Streit um den "Maschendroahtzaun" bekannt. TV-Entertainer Stefan Raab (56) machte daraus eine Endlos-Lachnummer.
Die Auerbacher Hausfrau Regina Zindler (75) wurde Anfang der 2000er-Jahre durch den Streit um den "Maschendroahtzaun" bekannt. TV-Entertainer Stefan Raab (56) machte daraus eine Endlos-Lachnummer.  © picture-alliance / dpa

TAG24: Ich bin in der DDR geboren und aufgewachsen. Meine Söhne denken nicht mehr in den Kategorien Ost und West. Kann es sein, dass Sie den Frust der letzten Generation von DDR-Bürgern vortragen?

Dirk Oschmann: Nach meinem FAZ-Artikel berichteten mir viele junge Menschen, dass das Thema sie sehr bewegt. Sie haben festgestellt, dass sie zum Studium oder zum Arbeiten in den Westen gehen und dort erst zu "Ossis" gemacht werden. Medial und allgemein im öffentlichen Raum wird dieser Unterschied auch permanent gemacht. Die "Ossis" werden dabei stigmatisiert als tumbe, faule Menschen mit rechter Gesinnung. Das ist eine Frechheit und verwächst sich offenbar auch nicht.

TAG24: Das klingt pessimistisch.

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Dirk Oschmann: Ist es auch! Der öffentliche Diskurs muss sich ändern. Der Osten kann nicht immer nur haftbar gemacht werden für alles Negative. Es muss aufhören, dass in dieser vereinfachten, schematisierten und respektlosen Form über den Osten geredet wird. Der Osten in seiner ganzen Individualität und Buntheit muss gezeigt werden. Ich nehme wahr, dass Leute aus dem Osten, egal welcher Generation, in diesem Land weniger Chancen haben, diese Demokratie mitzugestalten.

TAG24: Sie beziehen sich bei dieser Aussage auf eine Studie von Soziologen der Uni Leipzig.

Dirk Oschmann: Ja. Die Studie aus dem Jahr 2022 hat belegt, dass Karrieren, die in Spitzenpositionen in der Gesellschaft - also Wissenschaft, Behörden, Wirtschaft und Politik - führen, nur im Westen stattfinden oder über Stationen im Westen. Es gibt also keine Chancengleichheit. Das ist ein Demokratieproblem. Wenn die Demokratie Bestand haben will, muss sie das zur Kenntnis nehmen und umsteuern.

TAG24: Sehen Sie da keine positiven Entwicklungen?

Dirk Oschmann: Für Sonntagsreden ist die Politik zuständig. Darum kann sich Herr Steinmeier kümmern. Ich will zeigen, was im Argen liegt und unsere Demokratie an den Rand des Zerreißens führt.

Taschengeldentzug, wenn die Kinder sächseln

"Töpfchenzwang": Westdeutsche Wissenschaftler behaupten, die Menschen im Osten wurden kollektiv deformiert, weil sie als Kinder gemeinsam in der Krippe auf den Töpfchen gesessen haben.
"Töpfchenzwang": Westdeutsche Wissenschaftler behaupten, die Menschen im Osten wurden kollektiv deformiert, weil sie als Kinder gemeinsam in der Krippe auf den Töpfchen gesessen haben.  © picture alliance/Wilfried Glienke

TAG24: In Ihrem Buch schnitzen Sie grobe Bilder und pauschalisieren. Sie laufen damit Gefahr, als Jammer-Ossi abgestempelt zu werden.

Dirk Oschmann: Man muss manchmal Dinge zuspitzen und übertreiben, damit etwas sichtbar wird, was man für normal hält. Für mich ist es nicht normal, dass die Leute im Osten im Schnitt 22,5 Prozent oder gar 40 Prozent weniger verdienen als ihre Kollegen im Westen. Ich will mich nicht daran gewöhnen und es hinnehmen, dass Ostdeutsche mit nur 1,7 Prozent in Spitzenpositionen unterrepräsentiert sind. Es ist für mich unzumutbar, dass 18 Prozent der Gesellschaft nicht die gleichen Chancen haben, ihr Leben zu verwirklichen. Schauen Sie sich Satiresendungen an. Das Sächsische gilt als Verlierersprache.

TAG24: Denken Sie da an Ihre Kinder, denen Sie Taschengeldentzug angedroht haben, wenn die Sächsisch sprechen?

Dirk Oschmann: Ja. Ich überlege mir natürlich auch, wo die mal studieren wollen. Ost-Uni, West-Uni oder gleich ins Ausland, damit sie in sichtbarer Weise nichts damit zu tun haben. Aber am Ende entscheiden sie das natürlich selbst.

TAG24: Haben Sie keine Angst, dass sich Vorurteile zementieren durch Bücher wie Ihres? Motto: Da jammert wieder ein Ossi …

Das ist das übliche Reiz-Reaktions-Schema. Da wird versucht, die Aussagen als "Jammern" abzutun. Wie armselig! Man sollte besser versuchen, die ja tatsächlich existierenden Mauern endlich wahrzunehmen. Darum geht es mir. Mein Buch ist keine Wohlfühlprosa. Ich verweise auf die reale Existenz der Mauern und Gräben. Vorurteile zu zementieren, liegt mir völlig fern.

Osten nicht mehr als Block wahrnehmen

Der gebürtige Karl-Marx-Städter Marco Wanderwitz (47, CDU) war von 2020 bis 2021 Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Mit manchen seiner Äußerungen erwies er dem Osten einen Bärendienst, sagen seine Kritiker.
Der gebürtige Karl-Marx-Städter Marco Wanderwitz (47, CDU) war von 2020 bis 2021 Beauftragter der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Mit manchen seiner Äußerungen erwies er dem Osten einen Bärendienst, sagen seine Kritiker.  © imago images/Reiner Zensen

TAG24: Sie wollen das Amt des Ostbeauftragten abschaffen. Warum?

Dirk Oschmann: Es ist Ausdruck von Paternalismus. Es taugt nicht als Lösung dafür, das Gefüge der Abhängigkeit und Unterordnung zu verändern. Ich sehe in der Sonderbehandlung eine Form der Ausgrenzung, die zunehmend trotziger abgelehnt wird.

TAG24: Ihre Lösungsvorschläge?

Dirk Oschmann: Besser wäre es meiner Meinung nach, Probleme in ihren regionalen Komplexitäten wahrzunehmen. Mein Wunsch wäre, dass der Osten nicht mehr als monolithischer Block wahrgenommen wird. Sondern in seinen Eigenheiten. Das wird den westdeutschen Bundesländern zugestanden. Das kann man den ostdeutschen Bundesländern ebenso zugestehen.

TAG24: In Interviews stellt man Ihnen jetzt oft Fragen nach Ihrer Herkunft. Sie antworten dann gern: Ich bin ein Deutscher, der aus dem Osten kommt. Weshalb so umständlich?

Dirk Oschmann: Ich finde, wir sollten mal 100 Jahre Pause machen bei der Verwendung der Worte "ostdeutsch" oder "Ostdeutsche". Ich verbinde damit die Hoffnung, dass die ganzen Stereotypen und negativen Zuschreibungen in Vergessenheit geraten, die immer wieder aufgerufen werden, wenn der Begriff verwendet wird. Das Problem besteht darin, dass alles schon entwertet ist, sobald es als "ostdeutsch" bezeichnet wird. Das sind strategische Entwertungen, die da stattfinden. Dahinter steckt: Der Osten taugt nichts. Gegen diese Entwertungsmaschinerie erhebe ich scharfen Widerspruch.

Titelfoto: Montage: Ullstein

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