Wenn Antirassismus rassistisch wird: Boris Palmer warnt vor Gefahr für unsere Demokratie

Tübingen - Wer in den sozialen Netzwerken unterwegs ist, der lernt fix, wie dort schnell mal aufgrund von Alter ("Ok, Boomer") oder Hautfarbe ("weißer Mann") versucht wird, Menschen von Debatten auszuschließen. Nun hat sich Boris Palmer (49, Grüne) des Themas angenommen.

Tübingens Rathauschef Boris Palmer (48, Grüne).
Tübingens Rathauschef Boris Palmer (48, Grüne).  © Tom Weller/dpa

Jahrelang vor allem in linken US-Akademikerkreisen angesagt, ist die sogenannte Woke-Denke inzwischen über den großen Teich geschwappt.

Ob Rassismus oder Diskriminierung: Wer so richtig woke (auf Deutsch "wach") ist, der scheint die Ursache aller Probleme schnell gefunden zu haben: bei alten, weißen, heterosexuellen Männern.

Das sorgt hüben wie drüben inzwischen für jede Menge gesellschaftlichen Konfliktstoff und gerne auch mal für Shitstorms auf Social Media.

Tübingens OB Boris Palmer plant politischen Farbenwechsel
Boris Palmer Tübingens OB Boris Palmer plant politischen Farbenwechsel

Nun hat sich Deutschlands wohl bekanntester Rathauschef mit dem Thema beschäftigt.

Auf seiner Facebook-Seite schrieb Boris Palmer -selbst ein (48 Jahre) alter, weißer Mann - von einem "Zangenangriff auf die Demokratie". Für ihn kommt die Gefahr nicht nur von von Rechts.

"NSU, der Mord an Walter Lübcke, Hanau und der Nazi-Anteil in der AfD sind ein Angriff auf die Demokratie von Rechts", so der Grünen-Politiker. Rechtsextremismus sei eine Gefahr für die Demokratie. "Leider gibt es parallel einen Angriff aus der Mitte, der genau so gefährlich ist, aber völlig unterschätzt wird, eben weil er aus der Mitte kommt, hehre Ziele verfolgt und gar nicht als extremistisch erkannt wird."

Und weiter: "Critical Race Theory, Critical Whiteness, White Supremacy, White Fragility - die Begriffe sind so akademisch, dass man erst mal nicht viel damit anfangen kann."

Ausgrenzen, Ansehen und Job verlieren

Mussten schon beide Shitstorms überstehen: Dieter Nuhr (60, links) und Thomas Gottschalk (70).
Mussten schon beide Shitstorms überstehen: Dieter Nuhr (60, links) und Thomas Gottschalk (70).  © Montage: Henning Kaiser/dpa, Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa

Aber die Theorie sei zur Praxis geworden: "Alte weiße Männer können ihren Rassismus nicht erkennen. Er ist strukturell. Folglich ist eine Debatte mit ihnen gar nicht möglich. Sie müssen bekämpft, beschämt, aus Machtpositionen entfernt werden."

Doch damit nicht genug: "Wer sich gegen diese Theorien stellt oder gar wagt, tabuisierte Begriffe und Gedanken zu verwenden, wird ausgegrenzt, moralisch abgewertet und verliert Ansehen und Job. Ein falscher Tweet reicht."

Nur drei Beispiele aus den vergangenen Monaten: Der WDR und Entertainer Thomas Gottschalk (70) kassierten nach der Talk-Sendung "Die letzte Instanz" zum Thema "Das Ende der Zigeunersauce: Ist das ein notwendiger Schritt?" jede Menge woke Prügel.

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Boris Palmer selbst sah sich heftigen Angriff ausgesetzt, als er sich über Dennis Aogo (34) äußerte. Und Kabarettist Dieter Nuhr (60) wurde im Netz gar als Rassist beschimpft.

Auch im komischen Fach muss man längst aufpassen, was man sagt. Sonst wird man im schlimmsten Fall gecancelt - und ist weg vom Fenster. Dass die Angst vor dieser Cancel Culture sich längst auf die Arbeit auswirkt, räumte vor Kurzem auch der schwarze US-Comedian Chris Rock (56, "Dogma") ein.

Chris Rock: Angst vor Cancel Culture sorgt für unlustige Komiker

US-Komiker Chris Rock (56) beklagt Auswirkungen der Cancel Culture auf seinen Berufsstand. (Archiv)
US-Komiker Chris Rock (56) beklagt Auswirkungen der Cancel Culture auf seinen Berufsstand. (Archiv)  © EPA/ARMANDO ARORIZO

Die Furcht sorge dafür, dass Komiker Risiken scheuten. Die Folge: Unlustige Komiker und unlustige Inhalte, so der 56-Jährige Showbusiness-Veteran.

Selbst der ehemalige US-Präsident Barack Obama (59) warnt inzwischen vor den Gefahren der Cancel Culture.

Zurück zu Palmers Kritik. Während die moralisch Unlauteren ausgegrenzt werden, gibt es auf der "anderen Seite" quasi Regressansprüche.

"Umgekehrt können die Opfer des strukturellen Rassismus Ansprüche auf Macht, Geld und beruflichen Aufstieg formulieren, unabhängig von Qualifikation und Leistung. Werden diese Ansprüche nicht befriedigt, ist dies ein Beleg für Rassismus", notiert der Rathauschef.

Der Schwabe nennt diesen neuen Antirassismus "rassistisch, illiberal und antidemokratisch".

Er zerstöre den Grundsatz der Freiheit und der Gleichheit: "Entscheidungen werden nicht mehr im Diskurs freier und gleicher Menschen errungen. Ein Teil der Menschen ist gar nicht urteilsfähig und muss von der Debatte ausgeschlossen und von Entscheidungen fern gehalten werden. Wer das ist, das legen die Vertreter der Ideologie einseitig fest."

Er appelliert: "Wer die liberale Demokratie erhalten will, darf diesen Verirrungen des Zeitgeistes nicht erliegen."

Titelfoto: Tom Weller/dpa

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