Krisenintervention: Sie helfen Menschen in den dunkelsten Stunden ihres Lebens

München - Die Situationen, in denen Kriseninterventionsteams ausrücken, wünscht man niemandem: tödliche Unfälle, Suizid-Fälle, rohe Gewalt. Die Ehrenamtlichen leisten Betroffenen hilfreichen Beistand.

Christoph Plettner (l.-r.), Andrea Deutlmoser und Stephan Jansen vom Münchner Kriseninterventionsteam KIT-München stehen zusammen an einem Einsatzwagen.
Christoph Plettner (l.-r.), Andrea Deutlmoser und Stephan Jansen vom Münchner Kriseninterventionsteam KIT-München stehen zusammen an einem Einsatzwagen.  © Peter Kneffel/dpa

Die Kartoffelsuppe wird heute wieder einmal kalt. Wolfgang Fluck hat sich gerade erst an den Mittagstisch gesetzt, da schrillt sein Piepser - der ehrenamtliche Mitarbeiter des Krisen-Interventions-Team (KIT) in München wird zum Einsatz gerufen. Wenige Minuten später fährt er mit eingeschaltetem Blaulicht zu einer Frau, der die Polizei gerade eine erschütternde Todesnachricht überbracht hat.

Seit 30 Jahren steht das Team des Arbeiter-Samariter-Bundes Menschen in den dunkelsten Stunden ihres Lebens bei. Damals weltweit das erste seiner Art, hat das "KIT-München" inzwischen zahlreiche Nachahmer gefunden - und nimmt noch immer eine Vorreiterrolle ein.

"30 Jahre KIT heißt: 30 Jahre hinfahren und für die Menschen da sein", bilanziert dessen Leiter Stephan Jansen vor der Jubiläumsfeier am Samstag. Die Ehrenamtlichen werden von den Einsatzkräften gerufen, wenn Menschen nahe Angehörige durch Unfälle, tödliche Gewalt oder Suizid verlieren oder ein Kind stirbt. Auch bei Naturkatastrophen, Amokläufen oder Zugunglücken kommen sie - selbst im Ausland - zum Einsatz.

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Ihr Ziel ist es, die Verarbeitung der belastenden Erfahrung zu fördern, um psychosoziale Folgen zu vermeiden oder zu verringern.

30 Jahre Krisenintervention in Deutschland

Wolfgang Fluck, ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Münchner Kriseninterventionsteam (KIT).
Wolfgang Fluck, ehrenamtlicher Mitarbeiter beim Münchner Kriseninterventionsteam (KIT).  © Peter Kneffel/dpa

Viele Betroffene von Extremsituationen erleben sich zunächst wie in einem schlechten Film, stehen völlig neben sich, manche schreien wie am Spieß. "Wir halten das aus", schildert Fluck mit seinem warmen badischen Einschlag.

Das Handlungsspektrum in traumatischen Situationen sei nicht sehr umfangreich - fliehen, erstarren oder angreifen seien klassische Reaktionen. Das KIT versuche, die Betroffenen wieder handlungsfähig zu machen.

Dazu gehört oftmals, den Abschied von dem geliebten nun toten Menschen zu ermöglichen. Der Anblick und das Berühren der Leiche ist extrem wichtig, um den Tod im wahrsten Sinne des Wortes zu be-greifen und dann damit umgehen zu können, wie Fluck erklärt.

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Auch das Gefühl von Sicherheit sei in einer solchen Ausnahmesituation von großer Bedeutung - und Informationen darüber, was wann wo und warum geschehen ist und geschehen wird.

Darüber hinaus aktivieren die KIT-ler das soziale Umfeld der Hinterbliebenen, Überlebenden oder Zeugen, geben Informationen zu folgenden Schritten und hilfreichen Ansprechpartnern. Sie klären auch darüber auf, dass ungewohnte psychische und körperliche Reaktionen eine völlig normale Antwort auf eine solch außergewöhnliche Situation sind.

Betreuung von Menschen in Extremsituationen kann Traumata und Depressionen verhindern

Das Kriseninterventionsteam KIT-München wird 30 Jahre alt.
Das Kriseninterventionsteam KIT-München wird 30 Jahre alt.  © Sven Hoppe/dpa

Unerwartete Schock-Ereignisse, die von den Betroffenen mit Angst, Hilflosigkeit und Kontrollverlust erlebt werden und ihre Bewältigungsmöglichkeiten übersteigen, können langfristig die Psyche schädigen.

"Aber wenn Menschen in Extremsituationen von Anfang an gut betreut werden, haben sie eine sehr hohe Chance von etwa 90 Prozent, dass sie nicht an einer Traumafolgestörung wie einer posttraumatischen Belastungsstörung oder Depression erkranken", erläutert KIT-München-Leiter Jansen.

Rund 1000 Einsätze leisten die 4 Haupt- und 61 Ehrenamtlichen in der bayerischen Landeshauptstadt Jahr für Jahr. Sie durchlaufen eine intensive theoretische wie praktische Ausbildung.

Über die Wirksamkeit ihrer Arbeit forscht derzeit der Doktorand Sebastian Hoppe von der Ludwig-Maximilians-Universität München. "91,8 Prozent sagen: Ja, die Betreuung insgesamt war für mich sehr hilfreich", schildert der Psychologe erste Ergebnisse seiner Befragung von Betroffenen.

Dennoch ist die psychosoziale Notfallversorgung längst nicht überall so etabliert wie in München. Zwar gibt es laut einem Forschungsprojekt der SRH Hochschule für Gesundheit in Gera inzwischen mehr als 300 ehrenamtliche Teams in Deutschland, doch deren Kapazitäten sind sehr unterschiedlich.

Außerdem ist Krisenintervention Ländersache, und trotz erster Schritte gibt es keine bundesweit verpflichtenden Ausbildungs- und Qualitätsstandards.

KIT-München: "Einige 100.000 Euro pro Jahr müssen wir komplett über Spenden finanzieren"

Stephan Jansen vom Münchner Kriseninterventionsteam.
Stephan Jansen vom Münchner Kriseninterventionsteam.  © Peter Kneffel/dpa

Auch ist die psychosoziale Notfallversorgung laut Bundesinnenministerium bislang nur in rund der Hälfte der Bundesländer gesetzlich verankert. Für Bayern etwa beklagt Jansen, dass es weder eine gesetzliche Grundlage für die Arbeit seines Teams gebe noch eine auskömmliche Finanzierung des für die Betroffenen kostenlosen Angebots.

"Einige 100.000 Euro pro Jahr müssen wir komplett über Spenden finanzieren", betont Jansen.

Dennoch sei München eine "Insel der Glückseligen. Die meisten fahren mit einem Privatauto, da hat der Notfallseelsorger eine gelbe Jacke und mehr nicht", schildert Jansen. Sein Team hingegen eile selbst bei Stau mit richtigen Einsatzfahrzeugen samt Blaulicht zum Einsatzort.

Das KIT-München könne es sogar leisten, als eines von weltweit nur zwei Teams die Betroffenen nach einigen Tagen ein zweites Mal zu kontaktieren - um zu verhindern, dass sie nach der ersten, oft turbulenten Zeit in ein tiefes Loch fallen.

Vielen Ehrenamtlichen gibt der Wunsch, für andere Menschen da sein und ihnen helfen zu können, die Kraft für ihr forderndes Engagement. Als Wolfgang Fluck nach dem Einsatz zu seiner kalten Kartoffelsuppe auf dem Küchentisch zurückkehrt, ist der 65-Jährige froh, dass er zu der frisch Verwitweten gerufen wurde.

"Ich kann ihren Mann nicht mehr lebendig machen. Aber ich konnte für sie da sein. Das macht einen Unterschied."

Titelfoto: Peter Kneffel/dpa

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