Ist Deutschlands Wohlstand in Gefahr? Experte erklärt, was jetzt getan werden muss

Köln - In Deutschland genießen wir einen Wohlstand, den viele von uns als ganz selbstverständlich und gesichert erachten. Doch Ökonom Thomas Mayer (69), Ex-Chefsvolkswirt der Deutschen Bank, warnt: Der Schein trügt. Unser Land brauche jetzt dringend eine "Agenda 2030", sonst würden uns junge und erfolgshungrige Staaten in Asien und Amerika den Rang ablaufen.

Volkswirt Thomas Mayer (69) warnt vor einem wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands.
Volkswirt Thomas Mayer (69) warnt vor einem wirtschaftlichen Abstieg Deutschlands.  © Flossbach von Storch Research Institute

Müsste man das deutsche Erfolgsmodell der letzten Jahrzehnte beschreiben, so brächte es dieser Dreisatz auf den Punkt: Können, Fleiß und günstige Energie.

Egal ob Automobilindustrie, Chemie, Pharmazie oder Maschinenbau - die deutsche Wirtschaft hat seit dem Ende des 2. Weltkriegs zahlreiche Weltmarktführer zutage gebracht.

Viele von Ihnen sind sogenannte "Hidden Champions", also versteckte Meister, die als Mittelständler in ihrem Marktsegment eine globale Führungsrolle einnehmen.

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Doch Thomas Mayer, der heute als Direktor des Think-Tanks Flossbach von Storch Research Institute arbeitet, läutet in einer Studie die Alarmglocken.

Eben dieses Erfolgsmodell sei in Gefahr und würde langsam aber stetig "erodieren".

Erosion des Könnens: Die Bildung ist in einer Schieflage

In Deutschland erreicht rund ein Viertel der heranwachsenden Schüler nicht die notwendigen Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen. (Symbolbild)
In Deutschland erreicht rund ein Viertel der heranwachsenden Schüler nicht die notwendigen Mindeststandards im Lesen, Schreiben und Rechnen. (Symbolbild)  © 123rf / anyaberkut

Der Wirtschaftswissenschaftler macht in seiner Analyse auf drei Faktoren aufmerksam: die Erosion des Könnens, die Erosion des Fleißes und die explodierenden Energiekosten.

Bei der Erosion des Könnens bezieht sich Mayer vor allen Dingen auf das Thema Bildung. Genauer: auf die Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2021.

Demnach verfehlen mittlerweile fast 18 Prozent der Viertklässler den Mindeststandard im Lesen, 18 Prozent den Mindeststandard im Zuhören und 30 Prozent der Schüler den Mindeststandard im Schreiben. In der Kompetenz Rechnen und Mathematik schaut es nicht besser aus. Hier verfehlen rund 22 Prozent der Viertklässler den Mindeststandard.

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Wohlgemerkt: Den Mindeststandard. Also das, was jedes Kind zu diesem Zeitpunkt eigentlich dringend können sollte. Schlechte Nachrichten für ein Land, das über keine großen Rohstoffreserven wie Öl oder Gas verfügt und deshalb auf den Erfindergeist seiner Einwohner angewiesen ist.

Und: Die Ergebnisse des Bildungstrends stellen im Vergleich zu 2016 eine deutliche Verschlechterung dar. Mayer führt den Leistungsabfall der Schüler nicht nur auf die Folgen der Corona-Pandemie zurück.

Der studierte Volkswirt schreibt: "Ein Grund für den Leistungsabfall ist, dass unser Schulsystem viele Kinder aus bildungsfernen Migrantenfamilien nur schwer auf die in der Wirtschaft nötigen Bildungsstandards bringen kann. Mit der steigenden Zahl dieser Kinder sinkt folglich die durchschnittliche Leistungsfähigkeit der Schüler."

Fleiß und Erfindergeist lässt nach

Abgesehen von der Bildung sieht Mayer auch in anderen Feldern Probleme auf Deutschland zukommen. So stagniere in Deutschland die Zahl der angemeldeten Patente. Sie liegt mittlerweile unter der Marke von 5000 und damit hinter China (ca. 6000 Patente) und weit hinter den USA (ca. 13000 Patente pro Jahr).

Zum Thema Fleiß schreibt Mayer: "Fleiß gilt in einer Gesellschaft, die mehr an der 'Work-Life-Balance' interessiert ist, nicht mehr als Tugend."

In Deutschland läge die durchschnittliche jährliche Arbeitszeit mittlerweile 30 Prozent hinter der in den USA und sogar 70 Prozent hinter der Chinas.

Steigende Energiekosten bringen Betriebe an den Rand der Verzweiflung

Hier sieht Mayer das derzeit größte Problem für unsere Volkswirtschaft. Deutsche Firmen müssten für elektrischen Strom den fünffachen Preis amerikanischer und den achtfachen Preise chinesischer Unternehmen bezahlen.

Mayer: "Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, zwingt die Politik der Industrie Technologien auf, in denen andere Länder Vorteile haben. Dazu gehören Elektroheizungen ebenso wie Autos mit Elektroantrieb."

Das habe auch zu dem alarmierenden Umstand geführt, dass mittlerweile mehr deutsche Firmen ihr Geld im Ausland investieren, als dass das Geld ausländischer Firmen nach Deutschland fließe.

Deutschland sei auch deshalb unattraktiv, weil die Regierung die Infrastruktur verfallen lasse und eine "lähmende Bürokratie" zu viele finanzielle und zeitliche Kosten verursache.

Schlechte Nachrichten für die heimische Wirtschaft: Immer mehr deutsche Unternehmen bauen neue Fabriken und Gebäude im Ausland. (Symbolbild)
Schlechte Nachrichten für die heimische Wirtschaft: Immer mehr deutsche Unternehmen bauen neue Fabriken und Gebäude im Ausland. (Symbolbild)  © 123rf / bunnynight

Was Deutschland jetzt tun muss

Wenn es um eine Strategie zur Lösung der sich anbahnenden Probleme geht, hat Mayer einige Vorschläge in petto. Seiner Ansicht nach muss Deutschland nun eine "Agenda 2030" - analog zu Gerhard Schröders Agenda 2010 - entwickeln und schnellstmöglich handeln.

Derzeit würde aber noch die harte Realität und die Wahrnehmung durch die Politik "weit auseinanderliegen".

Zu seinen politischen Forderungen zählen:

  • eine Neuaufstellung der deutschen Energieversorgung mit dem Ziel, bezahlbare Energie zur Verfügung zu stellen
  • ein Abbau der überbordenden Bürokratie
  • eine umfassende Modernisierung der öffentlichen Infrastruktur
  • die Annahme der Herausforderung auf dem Gebiet der digitalen Technologie, insbesondere der künstlichen Intelligenz
  • eine Reformierung des Bildungssystems
  • die Bewältigung der Migrationskrise

Wie eine konkrete Umsetzung dieser Forderungen aussehen könnte, ließ Ökonom Mayer jedoch zunächst offen.

Er schließt mit einer Warnung: "Wenn die Wirtschaft nicht mehr gehört wird, entschließt sie sich zum 'Exit". Und wenn den Bürgern ihre Stimme genommen wird, gehen sie in die innere Emigration."

Titelfoto: Montage: Flossbach von Storch Research Institute, 123rf / bunnynight

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