Er haucht Uhren Leben ein: Bei Meister Schneegaß muss alles immer richtig ticken
Grimma - Das Geschäft mit der Zeit scheint zeitlos zu sein. Doch der Eindruck trügt. Gab es kurz nach der Wende allein im Innungsbezirk Leipzig 200 Uhrmachermeister, sind es heutzutage nicht mal mehr 20. Einer von dieser Zunft, der wortwörtlich immer mit der Zeit gehen muss, ist Jörg Schneegaß (59). In seiner Werkstatt haucht er Liebhaberstücken wieder das stetige Ticktack des Lebens ein. Er ist einer der Letzten seiner Art. Einen Nachfolger hat der Großuhrmachermeister noch nicht.

Wer zur vollen Stunde die Ladenwerkstatt von Jörg Schneegaß in Grimma betritt, kann sich auf ein vielstimmiges Konzert gefasst machen. Dann schlagen und spielen alle Uhren in seinem "Schmuckkästchen".
Die zartesten Stimmchen geben dabei Wecker von sich, die sonorsten Melodien erzeugen monströse Schlagwerke von Standuhren. Manchmal kreischt auch noch ein aufgeschreckter Kuckuck aus einer Kuckucksuhr dazwischen.
Die Uhr-Laute sind ein Qualitätstest für den Uhrmacher. Denn alle diese Zeitmesser hatten einmal ein Problem. Sie gingen vor, gingen nach oder gingen gar nicht mehr. Wenn dann für ihre Besitzer die Zeit stehenblieb, schauten sie sprichwörtlich wie ein Schwein ins Uhrwerk.
Doch Meister Schneegaß renkt wieder ein, was aus dem Takt geraten ist. "Ich bin Spezialist für Großuhren", sagt er und schiebt die Erklärung gleich hinterher. "Als Grußuhren bezeichnet man Zeitmesser ab der Größe eines Weckers, vor allem aber Wand- und Standuhren sowie Regulatoren."


Uhren-Reparatur mit Pinzette und Lupe oder auch mit Hammer und Schraubenschlüssel

Für eine Reparatur geht er den kleinen Monstern unter den Uhren förmlich an die Eingeweide. Erst Gehäuse öffnen, Zeiger abmontieren, Ziffernblatt abnehmen.
Wenn dann das Laufwerk in Fußballgröße freigelegt und ausgebaut ist, muss er trotzdem oft mit dem ganz kleinen Uhrmacherbesteck ran - von der Pinzette bis zur zwölffach vergrößernden Steinlupe. "Bei Stand-, Turm- und Kirchuhren kommen auch schon mal Hammer und Schraubenschlüssel zum Einsatz."
Gerade hat er eine Rundkopf-Standuhr der Leipziger Marke DUFA in der Mache. "Die Pendelfeder ist defekt, muss ersetzt werden", hat der Spezialist der zeitzeigenden Patientin diagnostiziert.
Die betagte Pendeluhr hat er bei einem Kunden in Dresden abgeholt und baut sie nach der Reparatur dort auch wieder auf. "Immerhin kann eine falsch aufgestellte Standuhr schon bei kleinster Schieflage stehenbleiben."
Manche Kunden kommen für eine Diagnose durch die halbe Republik gleich mit mehreren stehengebliebenen Uhren angereist. "Nach der Wende verkauften sich 'Westminster'-Standuhren mit den typischen drei Gewichten gut, für die jetzt nach über 30 Jahren eine Wartung fällig ist."


Englische Bodenstanduhren haben es Jörg Schneegaß angetan

Die Uhrwerke bestehen nicht selten aus über 200 Teilen. "Die Kunst besteht darin, sie nach Ausbau, Säuberung und Instandsetzung von Zahnrädern wieder alle in der richtigen Reihenfolge einzubauen."
Und warum haben sie drei Gewichte? "Das dritte ist für die Melodie zuständig, die jede Viertelstunde gespielt wird - oftmals die vom Big Ben."
Etwa sechs Stunden veranschlagt der Spezialist für eine Generalüberholung, die mit 250 bis 300 Euro zu Buche schlägt. "Bei Regulatoren bekommt zum Beispiel jede Laufwerksbuchse ein neues Lager spendiert, die Räderzapfen müssen poliert, jedes Zahnrad im Uhrengetriebe geölt werden."
Bei Turmuhren dreht er die erforderlichen Lagerbuchsen in seiner Werkstatt sogar maßgerecht gleich selber.
Seine Lieblingspatienten sind übrigens englische Bodenstanduhren. "Ich bin Schottland-Fan, mag die handgemalten Motive von Schafen, Landwirtschaft, Segelbooten oder Jagdszenen. Wer dafür um die 3500 Euro ausgegeben hat, will das Unikat auch regelmäßig schlagen hören."

Nur Kuckucksuhren mag er nicht. "Sie besitzen meist einfache Werke auf dünnen Holzplatinen, aber 1000 Hebel und Federn." Also viel Präzisionsarbeit für ein vergleichsweise einfaches Uhrwerk.
Der Perfektionist ist in seinem Gewerbe längst ein Uhr-Großvater, sucht deshalb jetzt einen Nachfolger. Denn er weiß: Eines Tages wird auch für seine Arbeit in der Werkstatt die letzte Stunde geschlagen haben.
Auf der Webseite www.schmuckkaestchen-grimma.de findet Ihr alle Infos über die Services, die Jörg Schneegaß anbietet.
Beim Thema Uhren denkt Leipzig groß

Schmuckstücke der Grimmaer Uhrmacherei stammen auch aus zwei sächsischen Uhren-Manufakturen. Das sind zum Beispiel Standuhren der Leipziger Uhrmacherschmiede DUFA (Deutsche Uhrenfabrikation), die aus der Uhrenfabrik Etzold & Popitz (Firmenslogan: "Fabrik moderner Zimmeruhren") hervorgegangen war.
"Auf der Rückseite des Ziffernblattes prangt die Silhouette des Leipziger Völkerschlachtdenkmals als Firmenlogo", verrät Schneegaß das Echtheitszertifikat.
Auch Turmuhren aus der Bernhard Zachariä GmbH bekommen bei Schneegaß eine Frischzellenkur. Die Turmuhrenfabrik in Leipzig gilt als älteste noch bestehende ihrer Art in Deutschland.
Ihre Uhren ticken zum Beispiel am Alten Rathaus in Leipzig, Hamburger Michel, Dresdner Zwinger oder am Roten Rathaus in Berlin.
Die wohl berühmteste Zachariä-Uhr ist das Schlagwerk auf dem Dach des Krochhochhauses am Augustusplatz der Messestadt. Es besteht aus drei Glocken, die von zwei 3,30 Meter großen Glockenmännern geschlagen werden - zur Bauzeit um 1927 das damals größte Turmschlagwerk der Welt!
Titelfoto: Petra Hornig