Forscher im TAG24-Gespräch: Darum lassen sich so wenig Menschen impfen

Halle - Ob bei der gerechten Verteilung von Impfstoffen oder der Frage der allgemeinen Impfpflicht: Gerne und oft fragt die Politik den Deutschen Ethikrat nach seiner Meinung - viel wissen tun die meisten Deutschen allerdings nicht über ihn. Was ist das für ein Gremium? Welchen Einfluss nimmt der Rat auf unsere Gesetzgebung? Und: Wofür stehen seine Mitglieder? TAG24 sprach für Euch mit Prof. Dr. Hans-Ulrich Demuth (68). Der Wissenschaftler aus Halle/Saale gehört dem Ethikrat seit 2020 an und hat eine klare Meinung, wie es in der Pandemie weitergehen soll.

Dies ist Teil 1 des Interviews. Er beschäftigt sich mit der Vorstellung des Rates und der heiß diskutierten Frage der Impfpflicht. Teil 2, unter anderem zu der Frage, wie wir als Gesellschaft nach Pandemie-Ende wieder zusammenfinden können, gibt es an dieser Stelle zu lesen.

Prof. Dr. Hans Ulrich Demuth (68) ist gebürtiger Hallenser, anerkannter Diabetes-Forscher und seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrates.
Prof. Dr. Hans Ulrich Demuth (68) ist gebürtiger Hallenser, anerkannter Diabetes-Forscher und seit 2020 Mitglied des Deutschen Ethikrates.  © Demuth

TAG24: Professor Demuth, stellen Sie sich doch mal vor!

Hans-Ulrich Demuth: Ich bin von Haus aus Biochemiker und Professor für Pharmabiotechnologie an der Hochschule Anhalt, an der ich auch lehre. Ich habe in meinem Leben aber auch mehrere Unternehmen gegründet. Zwei sind mit ihren Entwicklungen schon weit, ein Medikament für Diabetiker Typ 2 ist seit 1997 auf dem Markt. Etwa 25 Prozent aller Altersdiabetiker auf der Welt nehmen dieses Medikament, was wir erfunden haben.

Eine zweite Entwicklung ist in den Händen unseres Nachfolgeunternehmens Vivoryon und ist jetzt in der klinischen Phase-II in Europa und den USA gegen das Alzheimer Syndrom. Ein drittes Medikament, was wir entwickeln, hat zum Ziel, eine der schlimmsten entzündlichen Erkrankungen des Menschen, nämlich die Parodontose zu behandeln. Da haben wir einen speziellen Mechanismus gefunden, den wir gezielt in den Bakterien treffen und damit die Gabe von nebenwirkungsreichen Antibiotika verhindert.

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TAG24: Was genau ist der Ethikrat und was ist Ihre Funktion?

Demuth: Der Deutsche Ethikrat basiert auf dem Deutschen-Ethikrat-Gesetz und ist vor einigen Jahren als eine Fusion der Räte entstanden, die die Bundesregierung und den Bundestag beraten haben. Die Hälfte der Mitglieder wird durch die Bundesregierung berufen und die andere Hälfte durch die Parteien vorgeschlagen und dann vom Bundestag per Beschluss bestätigt. Wir als Mitglieder beschäftigen uns mit allen möglichen Fragestellungen, die die Gesellschaft im Moment und in der Zukunft beschäftigen könnten.

TAG24: Was sind das zum Beispiel für Themen?

Demuth: Zur pränatalen Diagnostik gab es eine Arbeitsgruppe und Stellungnahme oder zum Thema Selbstmord. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2021 hat es bisher noch keine Gesetzesvorlage geben. Wir sind dabei Empfehlungen zu erarbeiten, wie ein entsprechendes Gesetz aussehen könnte. Hier geht es u. a. darum, Ärzte vor juristischer Auseinandersetzung zu schützen, wenn sie Menschen mit dem Wunsch zu sterben, Hilfe leisten wollen.

Ein weiteres großes Gebiet beschäftigt sich mit dem Verhältnis zwischen Menschen und Maschine. Hier kommt es hoffentlich zu einer Fassung gesetzlicher Grundlagen, wie wir künstliche Intelligenz beeinflussen können, dass es nicht zu unkontrollierbaren Übergriffen kommt. Ein weiteres aktuelles Themengebiet ist das Problem der Impfung gegen SARS-COV2. Wie gehen wir mit der Pandemie und der geplanten Impfpflicht um?

Wir haben uns in einer im Dezember veröffentlichen Stellungnahme bemüht, alle möglichen Fragestellungen einzufangen, die juristischer, medizinischer und generell ethischer Natur sind, um Empfehlungen auszusprechen, wie eine Gesetzgebung angegangen werden könnte. Und weiterhin beschäftigt sich eine Arbeitsgruppe mit den bisherigen Lehren aus der Pandemie.

Das ist der Einfluss des Ethikrates auf die deutsche Politik

In einem gut einstündigen Gespräch beantwortete Prof. Demuth die Fragen von TAG24-Reporter Erik Töpfer (22, M.) und Politikredakteur Paul Hoffmann (29, r.).
In einem gut einstündigen Gespräch beantwortete Prof. Demuth die Fragen von TAG24-Reporter Erik Töpfer (22, M.) und Politikredakteur Paul Hoffmann (29, r.).  © Norbert Neumann

TAG24: Gibt es für die Arbeit im Ethikrat eigentlich Geld?

Demuth: Nein, das ist eine ehrenamtliche Tätigkeit, die ziemlich viel Zeit kostet. Was wir bekommen ist maximal eine Aufwandsentschädigung. Da bin ich schon manchmal sehr überrascht. Wir haben beispielsweise für die Empfehlung zur Impfgesetzgebung drei Tage hintereinander jeweils acht bis neun Stunden am Bildschirm gesessen und es dann gemeinsam bis auf den Punkt diskutiert.

24 Mitglieder, Juristen, Theologen, Mediziner, Naturwissenschaftler und Staatsrechtler, die hier alle ihre Meinung mit einbringen – sprich eine breite Vielfalt gesellschaftlicher Themen abdecken können, die dann in unsere Empfehlungen mit einfließen.

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TAG24: Im Laufe der Pandemie wurde der Ethikrat häufig von der Bundesregierung nach Rat gefragt. Welchen Einfluss hat er eigentlich auf die deutsche Gesetzgebung?

Demuth: Er kann keine Gesetze erlassen, er kann Empfehlungen abgeben. Das ist sein Einfluss. Er macht das mit bestem Wissen und Gewissen. Sie haben Recht, gerade in der Pandemie sind wir öfter angefragt worden. Sowohl von Jens Spahn, parallel zu Angela Merkel, um unsere Meinung zu bestimmten Fragestellungen zu hören. Die haben wir dann auch abgegeben. Ob und wie das in gesetzgeberische Ausführung einfließt, das sehen wir dann erst Monate oder Jahre später, wenn die Gesetze erlassen sind.

TAG24: In den letzten zwei Jahren wurde immer wieder nach dem Motto "Der Schutz des Lebens aller steht über der persönlichen Freiheit des Einzelnen" Politik gemacht. Wo genau endet denn diese staatliche Fürsorgepflicht?

Demuth: Die endet meines Erachtens bei der Verantwortung des Einzelnen. Wir selbst haben für uns Verantwortung und wir müssen dafür sorgen, dass unsere Umgebung, unsere Freunde, unsere Liebsten und unsere Arbeitskollegen, vor uns geschützt sind, wenn wir infiziert sind. Die staatliche Fürsorgepflicht bezieht sich für meine Begriffe auf Maßnahmen wie die Beschaffung von Masken, die es am Anfang nicht gab, oder auch die Beschleunigung bei der Entwicklung des Impfstoffes. Das sind die Aufgaben, die ich im Rahmen des Staates sehen würde. Und natürlich auch in der Informations- und Obhutspflicht, beispielsweise durch das RKI.

Hier liegt der Unterschied zwischen gesellschaftlichem Zwang und individueller Freiheit

Beim Thema erhitzen nicht nur die Gemüter, oft wird es auch beleidigend oder unwissenschaftlich.
Beim Thema erhitzen nicht nur die Gemüter, oft wird es auch beleidigend oder unwissenschaftlich.  © Moritz Frankenberg/dpa

TAG24: Geht denn die Impfpflicht nicht über die Eigenverantwortung des Einzelnen hinaus?

Demuth: Jetzt stelle ich Ihnen mal eine Frage! Was passiert, wenn Sie zum Zahnarzt gehen, er zieht Ihnen einen Zahn. Das tut Ihnen furchtbar weh und man bietet Ihnen eine Injektion gegen die Schmerzen an. Was sagen Sie da?

TAG24: Da willige ich natürlich ein!

Demuth: Und da sind wir genau bei dem Punkt, den ich sehr oft höre! Ein Einfluss auf die körperliche Unversehrtheit sehe ich dann bei einer Impfung auch nicht.

TAG24: Und wo ziehen Sie dann genau die Grenze zwischen individueller Freiheit und gesellschaftlichem Zwang?

Demuth: Das ist schwer zu diskutieren. Für mich ist es ein Wechselverhältnis. Das Individuum und die Individuen in unserer Gesellschaft haben, wie ich schon gesagt habe, eine Eigenverantwortung und eine Verantwortung gegenüber ihren Familien, Nachbarn, Kindern und den anderen Mitgliedern der Gesellschaft. Nehmen wir mal an, Sie steigen in eine Straßenbahn, sind infiziert und nehmen keine Maske mit, dann verletzen sie aus meiner Sicht Obhutspflicht gegenüber Dritten.

TAG24: Ist die Gefahr durch Einführung einer Impfpflicht nicht größer als der Nutzen fürs Gemeinwohl?

Demuth: Diese These ist in den letzten zwei Jahren aufgekommen. Zu Beginn der Pandemie haben wir einen Fehler gemacht. Man hätte von vornherein, wie bei anderer Erkrankung, wie bei Pest, Kinderlähmung oder Masern sagen müssen, wir führen hier eine Impfpflicht ein, um die Bevölkerung zu schützen. Das ist hier nicht gemacht worden und seitdem kocht es hoch.

Demuth: Vernachlässigbar Wenige durch Impfstoffe erkrankt

Kinder im indischen Jaipur stehen Schlange, um sich gegen Corona impfen zu lassen. Sie gehören zu den 62 Prozent der Weltbevölkerung, die mindestens eine Impfung bekommen haben.
Kinder im indischen Jaipur stehen Schlange, um sich gegen Corona impfen zu lassen. Sie gehören zu den 62 Prozent der Weltbevölkerung, die mindestens eine Impfung bekommen haben.  © Vishal Bhatnagar/PTI/dpa

TAG24: Zu Beginn der Impfungen hat Jens Spahn verzweifelt versucht, dieses Nebenwirkungsdebakel bei AstraZeneca irgendwie zu erklären. War das der Knackpunkt, an dem die Menschen das Vertrauen in den Impfstoff verloren haben?

Demuth: Weltweit sind aktuell etwa 62 Prozent der Weltbevölkerung mindestens einmal geimpft. Das entspricht rund 10,4 Milliarden Dosen, und z.Z. werden 31 Millionen Dosen täglich verimpft (ourworldindata.org). Und es sind vernachlässigbar Wenige am Impfstoff oder den Zusatzstoffen erkrankt. Daher ist diese Diskussion lächerlich.

TAG24: Da stimmen wir grundsätzlich zu, aber so denkt ja nicht jeder…

Demuth: Ich war kürzlich im Sächsischen Landtag zu einer Diskussionsrunde eingeladen und da habe ich mich sehr gewundert. Sachsen leistet sich im Gegensatz zu allen anderen Bundesländern eine Impfkommission, parallel zur STIKO der Bundesrepublik. Darüber hinaus gibt es noch zwei andere Kommissionen, von denen zwei Vertreter, zwei Ärzte dabei waren. Das war eine Katastrophe!

Der Vorsitzende der Sächsischen Impfkommission (SIKO), Dr. med. Thomas Grünewald, und ich waren auf der einen Seite und die beiden Ärzte auf der anderen Seite. Das fand ich schon fatal, weil das widergespiegelt hat, wie es um die Aufklärung in der Bevölkerung oder selbst in Berufsgruppen steht, denn es wurden unbegründete und nicht nachprüfbare Argumente benutzt.

Fehlende Aufklärung ist ein großes Problem der Pandemie

Bei der Erläuterung der Pandemie muss mehr auf die grundlegende gesellschaftliche Bildung aufgebaut werden.
Bei der Erläuterung der Pandemie muss mehr auf die grundlegende gesellschaftliche Bildung aufgebaut werden.  © Bodo Schackow/ZB/dpa

TAG24: Aufklärung scheint ein größeres Problem zu sein...

Demuth: Wir haben ein Problem, dass wir in der Pandemie noch nicht richtig in die Hand genommen haben. Den meisten Menschen wird es langweilig, wenn sie permanent das Wort Corona hören. Aber nichtsdestotrotz haben wir ja eine Schule, wir haben eine grundlegende Bildung in der Gesellschaft, auf die müssen wir aufbauen und die müssen wir nutzen!

Ich finde Daten von vielen Kollegen aus unserem Feld, wie eine Booster-Impfung sich nach mehreren Monaten auf die Zahl der Antikörper auswirkt, faszinierend. Im Fachmagazin "Nature" gibt es jetzt eine neuere Publikation von der Virologin Sandra Ciesek aus Frankfurt, die das intensiv untersucht hat.

Die Antikörper-Level sind nach dem Booster deutlich über dem Niveau einen oder sieben Monate nach der zweiten Impfung - sowohl gegen den SARS-COV2-Wildtyp und auch dessen Omikron-Variante. Das heißt, das Impfen bringt etwas! So argumentiere ich mit verschiedenen Menschen und so habe ich schon einige überzeugt, inklusive meiner Physiotherapeutin. (lacht)

TAG24: Nochmal kurz und knapp zusammengefasst: Meinen Sie, fehlende Impfbereitschaft hängt ursächlich mit mangelnder Bildung zusammen?

Demuth: Ja, oder mit einer Verweigerung sich damit zu beschäftigen. Beides spielt eine Rolle. Es gibt so viel Material, neben diesem ganzen Nonsens, den es im Internet gibt, sich die richtigen Informationen zu holen… Ich habe das Gefühl, dass machen manche einfach nicht. Ich persönlich kenne einen schlimmen Fall einer Ärztin aus meiner Heimatstadt Halle/Saale, die zu einer Corona-Gegnerin geworden ist und jetzt in einer Heilanstalt sitzt. Die hat sich so in ihre Position hineingesteigert, dass sie aggressiv in Altenheime eingedrungen ist und dort versucht hat, Menschen anzustecken. Ihr Mann hat sich von ihr scheiden lassen und er sitzt jetzt mit den Kindern allein da. Diese Geschichte ist für mich ein Ergebnis dieses Umstandes, sich nicht mit Sachverhalten auseinanderzusetzen.

Wissen Sie: Man muss sich nicht von allem überzeugen lassen, aber an irgendeinem Punkt muss man versuchen, die anfangs besprochene gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen. Das tut mir dann immer leid, wenn sowas passiert.

TAG24: Aber ist das dann nicht auch eine Aufgabe für den Ethikrat, so eine Art Internetführerschein zu diskutieren? Älteren Menschen fällt es ja durchaus schwer, im Internet zwischen richtig und falsch, wahr und Lüge zu unterscheiden…

Demuth: Ich glaube, das dürfen wir nicht machen! Was wir machen können, ist, sich an Kampagnen zur Aufklärung zu beteiligen. Bildungsangebote an sich muss aber der Staat leisten.

Wer weiterlesen möchte, findet in diesem TAG24-Artikel den zweiten Teil des Interviews.

Titelfoto: Demuth

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