Prozess gegen KZ-Sekretärin Irmgard F. (97): Historiker spricht von 19.000 Toten in ihrer Dienstzeit

Itzehoe - Während der Dienstzeit der in Itzehoe vor Gericht stehenden ehemaligen KZ-Sekretärin kamen nach Aussage eines Historikers mindestens 19.278 Gefangene in Stutthof und seinen Außenlagern ums Leben.

Stefan Hördler (45) wird erneut als Zeuge beim Stutthof-Prozess aussagen. (Archivbild)
Stefan Hördler (45) wird erneut als Zeuge beim Stutthof-Prozess aussagen. (Archivbild)  © Christian Charisius/dpa/Pool/dpa

Die Zahl beziehe sich auf die Zeit zwischen dem 1. Juni 1943 und dem 23. April 1945, als die Angeklagte als Schreibkraft in der Kommandantur arbeitete, erklärte der Sachverständige Stefan Hördler (45) am Dienstag vor dem Landgericht.

Grundlage seiner Angabe seien die Einlieferungs- und Sterbebücher des Lagers sowie die Meldungen des KZ-Arztes, sagte er. Er gehe davon aus, dass mindestens die Hälfte der Toten im Hauptlager starb, wo sich die Kommandantur von Stutthof befand. Ein großer Teil der Opfer seien jüdische Frauen gewesen. Sie starben an Hunger, einer Fleckfieber-Epidemie, wurden zu Tode geprügelt, erschossen oder vergast.

In dem Prozess in Itzehoe angeklagt ist die 97 Jahre alte Irmgard F. Sie soll von Juni 1943 bis April 1945 als Zivilangestellte in dem deutschen Konzentrationslager bei Danzig gearbeitet haben.

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Die Staatsanwaltschaft wirft ihr vor, durch ihre Schreibarbeit Beihilfe zum systematischen Mord an über 11.000 Gefangenen geleistet zu haben.

Drei Nebenkläger bereits während des Prozesses gestorben

Der Prozess gegen Irmgard F. (97) läuft seit Monaten.
Der Prozess gegen Irmgard F. (97) läuft seit Monaten.  © Georg Wendt/dpa

Zu Beginn der Verhandlung würdigte der Nebenklagevertreter Rajmund Niwinski am Dienstag seine verstorbene Mandantin Halina Strnad. Sie sei am vergangenen 6. September in Australien gestorben, sagte der Anwalt. Die 1930 in Polen geborene Jüdin hatte am 14. Juni als Zeugin von ihren schrecklichen Erlebnissen in Stutthof berichtet.

Mit Strnad sind von den ursprünglich 31 Nebenklägern bereits drei gestorben. Strnad war Anfang 1945 auf einen Todesmarsch getrieben worden, hatte dabei aber fliehen können.

Das KZ sei am 25. Januar, als die sowjetische Armee nur noch gut 40 Kilometer entfernt war, zur Hälfte evakuiert worden, erklärte Hördler am Dienstag.

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11.500 Häftlinge seien in 41 Marschkolonnen in Richtung des 140 Kilometer entfernten Lauenburg in Pommern (heute Lebork) getrieben worden. Weil die Rote Armee das Gebiet schließlich umzingelte, habe ein Teil der Häftlinge wieder nach Stutthof zurückkehren müssen.

Am 25. und am 27. April habe es eine weitere Evakuierungsaktion gegeben. 4500 Häftlinge seien von SS-Leuten auf die Halbinsel Hel geführt und von dort mit Schiffen über die Ostsee nach Schleswig-Holstein gebracht worden. Laut Befehl der SS-Führung sollten kranke Häftlinge zurückgelassen werden. Wer auf dem Marsch nicht mehr weiter konnte, sollte erschossen werden.

Seit Herbst 1944 stieg Zahl der Toten im KZ steil an

Wolf Molkentin (links), Anwalt und Verteidiger der Angeklagten, und Rajmund Niwinski, Anwalt und Nebenklagevertreter, sprechen vor Prozessbeginn im Gerichtsaal.
Wolf Molkentin (links), Anwalt und Verteidiger der Angeklagten, und Rajmund Niwinski, Anwalt und Nebenklagevertreter, sprechen vor Prozessbeginn im Gerichtsaal.  © Georg Wendt/dpa

Schleswig-Holstein habe nach Vorstellung der Nazis die "Festung Nord" werden sollen. Es habe Überlegungen gegeben, im noch besetzten Norwegen ein neues KZ-System zu errichten, sagte Hördler.

Bereits seit Herbst 1944 sei die Zahl der Toten in Stutthof steil angestiegen. Im September 1944 seien 308 Todesfälle verzeichnet worden, im Dezember über 3600 und in den ersten elf Januartagen 2906. Allein 124 Jüdinnen starben laut einer Todesbescheinigung des KZ-Apothekers am 9. Januar 1945, angeblich an "Herz - allgemeine Körperschwäche".

In den SS-Dokumenten wurden die Opfer als "Judenweiber" bezeichnet. Kommandant Paul Werner Hoppe ordnete die Einäscherung der Toten an. Dieser Befehl sei wie die Evakuierungsbefehle vermutlich in der Kommandantur abgezeichnet worden, wo die Angeklagte damals arbeitete und auch übernachtete, erklärte Hördler.

Verteidiger Wolf Molkentin warf dem Sachverständigen nach dessen Vortrag vor, er hebe nur die seiner Ansicht nach belastenden Dinge hervor. Er habe jedoch wie die Staatsanwaltschaft die Pflicht, auch entlastende Erkenntnisse vorzutragen. "Das ist aus meiner Sicht ein bedenklicher Vorgang", sagte der Verteidiger. Er betonte, dass niemand im Saal die Verbrechen der SS in Stutthof bezweifle.

Erstmeldung: 5.34 Uhr. Aktualisiert: 18.28 Uhr.

Titelfoto: Georg Wendt/dpa

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