Weihnachtsmarkt-Prozess: Was Betroffene erwarten und hoffen
Von Dörthe Hein und Marion van der Kraats
Magdeburg - Weihnachtsmusik schallt über den Markt. Der Geruch von Glühwein, Bratwurst und Süßem liegt in der Luft. Plötzlich rast ein Auto über den Magdeburger Weihnachtsmarkt.
Binnen Sekunden werden Hunderte zu Opfern, Betroffenen, Hinterbliebenen. Mehr als 300 Frauen, Männer, Kinder und Jugendliche werden verletzt, ein Neunjähriger stirbt, ebenso fünf Frauen.
Sehr viel mehr Menschen werden noch lange mit dem kämpfen, was sie gesehen und gehört haben, auch die Helfer.
Genau eine Minute und vier Sekunden hat der Anschlag am 20. Dezember 2024 gedauert, der so viele Leben zerstörte.
Fast elf Monate später soll nun am 10. November der Prozess gegen den dann 51 Jahre alten Täter beginnen. Viele Betroffene werden dem saudi-arabischen Arzt im eigens gebauten Gerichtssaal gegenübersitzen.
Rund 150 Betroffene sind als Nebenkläger im Verfahren vertreten, mit dem Recht, Fragen zu stellen und am Ende auch einen Strafantrag zu formulieren.
Im eigens errichteten Gebäude finden 450 Nebenkläger Platz
Eine ihrer Vertreterinnen ist die Magdeburger Rechtsanwältin Petra Küllmei.
Aus zahlreichen Gesprächen mit ihren Mandanten, die bislang den Kontakt mit Medien scheuen, kennt sie deren Erwartungen an den Prozess. Sie wollen dem Menschen ins Gesicht blicken, der so etwas tut.
"Wir werden da als Front sitzen und durch die Präsenz zeigen: Das hast du uns angetan", formuliert Küllmei deren Ansinnen. Die meisten ihrer Mandanten, die Zahl hat sich bis zuletzt stetig erhöht, wollten dabei sein - zumindest zum Beginn, bei den Plädoyers und zum Urteil.
Damit alle Betroffenen die Möglichkeit haben, am Prozess teilzunehmen, hat das Land Sachsen-Anhalt ein Interimsgebäude errichten lassen, in dem allein für die Nebenkläger und ihre Anwälte 450 Plätze zur Verfügung stehen.
Für sie gibt es in dem 65 Meter langen Saal eine Tribüne, ihnen gegenüber sitzt der Täter in einer Glasbox.
Der Bundesopferbeauftragte Roland Weber findet es "gut und richtig", dass dieser Saal errichtet wurde. "Denn nur so haben Menschen die Chance, als Nebenkläger vor Ort zu sein", sagt er.
Ob sie diese Möglichkeit tatsächlich wahrnehmen, bleibe abzuwarten.
Viele Betroffene sind wieder in Arbeit, zugleich weiter in Therapie
Nebenklagevertreterin Küllmei geht davon aus, dass im Verlauf des Prozesses viele Plätze freibleiben werden. Denn: "Fast alle sind wieder in Arbeit", sagt sie mit Blick auf ihre Mandanten.
Was aber nicht bedeute, dass es ihnen wieder gut gehe. Fast alle Betroffenen seien wegen der psychischen Folgen in Behandlung. Andere litten nach wie vor unter körperlichen Beeinträchtigungen, etwa beim Gehen.
Wie schwer der Anschlag nachwirkt, merkt Petra Küllmei etwa, wenn eine Mandantin aus Leipzig sich gar nicht nach Magdeburg traut.
Mit vielen habe sie erst mal telefoniert oder sich außerhalb der Kanzlei getroffen.
Der Prozess sei auch eine Form der Aufarbeitung.
Menschen hoffen auf Erklärung
Betroffene suchten nach Gründen für die Tat und erhofften sich im Prozess möglicherweise eine Erklärung, sagt der erfahrene Trauma-Experte Georg Pieper, der unter anderem mit Hinterbliebenen des Zugunglücks von Eschede und mit Betroffenen des Amoklaufs an einem Erfurter Gymnasium gearbeitet hat.
"Die Menschen können einfach nicht verstehen, dass ein Mensch in der Lage ist, so etwas zu verrichten."
Pieper warnt davor, von dem Prozess zu viel zu erwarten: "Es gibt möglicherweise bei vielen Betroffenen die Hoffnung, dass sich mit dem Prozess die Traumatisierung erledigt. Das ist aus traumatherapeutischer Sicht eine gefährliche Hoffnung", so der Psychotherapeut.
"Für eine wirkliche Bewältigung des Traumas ist eine individuelle Auseinandersetzung erforderlich."
"Das bekommen die Menschen nicht aus dem Kopf."
In der Magdeburger Unimedizin wurde noch am Abend des Anschlags eine psychosoziale Akuthilfe aufgebaut.
In den ersten Stunden und Tagen wurden hier vor allem Angehörige von Verletzten betreut, dann die Menschen, die das Erlebte nicht loslässt, so Florian Junne, Direktor der Universitätsklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie.
Viele Patienten berichteten Ähnliches: Es drängt sich ihnen das Geräusch auf, wie der Mietwagen des Attentäters gegen die Menschen fährt. Schreiende Kinder.
Filmähnliche Flashbacks seien die schwerste Form, so Junne. Für die Patienten sei es wie im Hier und Jetzt. "Das bekommen die Menschen nicht aus dem Kopf."
Rund 50 Menschen, die den Anschlag erlebt haben, werden nach seinen Angaben derzeit in der Klinik behandelt.
Rund 600 Kontakte von der anonymen telefonischen Beratung bis zum stationären Aufenthalt habe es seit Dezember gegeben.
Betroffene bekommen Hilfe
Eine Lotsenfunktion im Geflecht von Hilfestellungen für Betroffene haben der Bundesopferbeauftragte Weber und sein Stab übernommen.
Als zentraler Ansprechpartner für alle Betroffenen von terroristischen oder extremistischen Anschlägen wäre Weber eigentlich nicht für diesen Fall zuständig gewesen, weil der Generalbundesanwalt die Ermittlungen nicht übernommen hat.
Aufgrund einer politischen Entscheidung ist er aber doch Ansprechpartner.
"Ausschlaggebend waren die besondere Bedeutung der Amokfahrt und ihre schwerwiegenden Folgen", erklärt Petra Viebig-Ehlert, Referatsleiterin im Bundesjustizministerium, wo der Opferbeauftragte angesiedelt ist.
"Wir sind dauerhaft für die Betroffenen da", betont sie.
Auch Weber ist sich sicher: "Unabhängig davon, wie lange der Prozess dauern wird: Uns wird der Komplex Magdeburg noch viele Jahre beschäftigen."
Vorerst fast 50 Verhandlungstage bis März geplant
Bislang hat das Gericht bis zum 12. März fast 50 Verhandlungstage eingeplant. Vorerst, denn wie lange der Prozess tatsächlich dauern wird, bleibt abzuwarten.
Zwar scheint der Tatablauf klar zu sein - doch es geht auch um die Motivlage des Angeklagten.
Für ihre Mandanten sei wichtig, dass der angeklagte Arzt für voll schuldfähig erachtet wird, schildert Anwältin Küllmei. "Es gibt Ängste, dass er es schafft, andere zu blenden, weil er Psychiater ist."
Küllmei bremst allzu große Erwartungen ihrer Mandanten. Sie sagte ihnen: "Erwarten Sie keine Entschuldigung oder etwas Plausibles."
Die Wahrheit erfahre man nicht im Gerichtssaal.
Titelfoto: Hendrik Schmidt/dpa

