Nach Messerattacke in Zug mit zwei Toten: Hätte die Tat verhindert werden können?

Brokstedt – Der Umgang der Behörden mit dem mutmaßlichen Täter rückt Tage nach der tödlichen Messerattacke in einem Regionalzug im schleswig-holsteinischen Brokstedt verstärkt in den Blickpunkt.

Zwei junge Menschen (†16, †19) wurden bei der Messerattacke in dem Zug getötet.
Zwei junge Menschen (†16, †19) wurden bei der Messerattacke in dem Zug getötet.  © Daniel Bockwoldt/dpa

So wirft der Resozialisierungsexperte Bernd Maelicke der Hamburger Justizsenatorin Anna Gallina (39, Grüne) im "Hamburger Abendblatt" vor, das 2019 beschlossene Hamburger Gesetz zu Resozialisierung und Opferschutz (HmbResOG) ignoriert zu haben. Die Behörde für Justiz und Verbraucherschutz in Hamburg wehrte sich gegen diese Kritik.

Bei der Tat in der Regionalbahn von Kiel nach Hamburg wurden zwei Menschen getötet, fünf schwer verletzt. Gegen A. wurde Haftbefehl wegen zweifachen Mordes und versuchten Totschlags in vier Fällen erlassen. Erst wenige Tage vor der Tat im Zug war A. (33), ein staatenloser Palästinenser, in Hamburg aus der U-Haft freigekommen.

Das Gesetz (ResOG) in Hamburg soll verhindern, dass Ex-Häftlinge in ein "Entlassungsloch fallen", wenn sich die Gefängnistore öffnen. Gallina habe es hier nicht angewendet, sagte der Jurist Maelicke der Zeitung.

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"Sie trägt als Senatorin die Verantwortung". Ein Sprecher von Gallinas Behörde teilte dagegen mit: "Die Vorgaben des Gesetzes zum Eingliederungsplan und auch zum Integrierten Übergangsmanagement gelten nur für die Strafhaft, nicht für die Untersuchungshaft."

Entlassungsmanagement könne nur zielgerichtet erfolgen. Aufgrund ungewisser Entlassungsperspektive könne für U-Häftlinge "ein zeitlich und inhaltlich strukturiertes Übergangsmanagement nicht umgesetzt werden". "Die Eingliederungsplanung erfolgt im Anschluss an die Untersuchungshaft, wenn feststeht, wie lange die Strafdauer ist."

Ibrahim A. war zwar zu einem Jahr Haft verurteilt worden und saß auch ein Jahr in Haft. Da aber das Urteil nicht rechtskräftig war, galt die Zeit offiziell als Untersuchungs- und nicht als Strafhaft.

Hätte die Justiz die Tat verhindern können?

Justizsenatorin Anna Gallina (39, Grüne) wird stark kritisiert.
Justizsenatorin Anna Gallina (39, Grüne) wird stark kritisiert.  © Sven Hoppe/dpa

Auch für den Hamburger CDU-Fraktionschef Dennis Thering zeigt der Fall aufs Neue, dass die Hamburger Justiz überfordert und Gallina der Aufgabe nicht gewachsen sei. "Sie taucht einmal mehr ab, statt Antworten zu geben und Probleme zu lösen", kritisierte Thering im "Hamburger Abendblatt".

Erste Antworten erwartet er am Donnerstag im Justizausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft. Die Senatorin hatte angekündigt, dort zu den Hamburger Aspekten der Tat zu berichten.

In Düsseldorf soll der Rechtsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags ebenfalls kommende Woche zu einer Sondersitzung zusammenkommen. A. war in der Vergangenheit sowohl in NRW als auch in Hamburg mit Gewaltdelikten aufgefallen.

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Der Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Migrationsrecht im Deutschen Anwaltverein (DAV), Thomas Oberhäuser, verneinte am Samstag im Deutschlandfunk die Frage, ob Justiz und Verwaltung die Tat hätten verhindern können.

Er verwies auf rechtliche Abwägungen und Vorgaben in Untersuchungshaft-Fällen. Justiz und Verwaltung hätten allenfalls die Tat dadurch verhindern können, dass sie ihn weiterhin in Untersuchungshaft gehalten hätten, so Oberhäuser. "Aber da hat die Justiz entschieden, dass das unverhältnismäßig gewesen wäre angesichts der ihm vorgeworfenen Tat."

Das Motiv des Tatverdächtigen ist unterdessen weiter unklar. Ibrahim A. hat nach Angaben seines Anwalts beim Haftrichter-Termin keine Aussagen zur Sache gemacht. Nach Vorliegen von Ermittlungsergebnissen werde er mit seinem Mandanten sprechen, sagte Anwalt Björn Seelbach der Deutsche Presse-Agentur am Samstag auf Anfrage.

Bessere Sicherheitsmaßnahmen in Zügen gefordert

Einsatz- und Rettungskräfte waren nach der Messerattacke mit einem Großaufgebot vor Ort.
Einsatz- und Rettungskräfte waren nach der Messerattacke mit einem Großaufgebot vor Ort.  © Jonas Walzberg/dpa

Der Fahrgastverband "Pro Bahn" und die Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer GDL sprechen sich laut einem Bericht der "Lübecker Nachrichten" (Sonntag/Montag) unterdessen für mehr Sicherheitsmaßnahmen in Zügen aus.

"Wir fordern einen flächendeckenden Ausbau der Videoüberwachung in allen Waggons", sagt Karl-Peter Naumann von "Pro Bahn". Das könne Kriminalität in den Zügen womöglich nicht immer verhindern. "Es hilft aber in jedem Fall, die Täter zu fassen. Und das ist insbesondere für die Opfer von hoher Bedeutung."

Die GDL trifft dem "LN"-Bericht zufolge in Kürze mit der landeseigenen Verkehrsgesellschaft Nah.SH, um über die Konsequenzen aus dem Angriff zu beraten. "Wir fordern schon seit Langem mehr Sicherheitsmaßnahmen in den Zügen", sagte der GDL-Bezirksvorsitzende Hartmut Petersen der Zeitung zufolge.

Laut Dennis Fiedel von Nah.SH verfügen alle neueren Regionalzüge, die seit 2015 im Einsatz sind, über Videotechnik, wie die "Kieler Nachrichten" am Samstag schreiben. Doch der RE 70, in dem sich die Messerattacke abspielte, war ein Ersatzzug ohne Videoaufzeichnung.

Titelfoto: Daniel Bockwoldt/dpa

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