Viele Russen sind gegen Putins Krieg in der Ukraine, doch Protest ist gefährlich

Moskau (Russland) - Mit brennenden Kerzen in der Hand lesen Frauen und Männer in der Moskauer Marosejka-Straße die Namen von Erschossenen vor. "All denen, die in diesem Haus lebten, gingen und nicht zurückkehrten", steht auf einer schwarzen Tafel an der gelben Fassade, dazu die Jahre 1937, 1941, 1945, 1952 - und mit Marker hinzugefügt: "2022?"
Menschen haben sich in Moskau zur Erinnerung an die Opfer staatlicher Gewalt versammelt. Die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" erinnert jedes Jahr im Oktober an die Opfer staatlichen Terrors
Menschen haben sich in Moskau zur Erinnerung an die Opfer staatlicher Gewalt versammelt. Die russische Menschenrechtsorganisation "Memorial" erinnert jedes Jahr im Oktober an die Opfer staatlichen Terrors  © Ulf Mauder/dpa

Die Erinnerungsaktion der Organisation Memorial, die in diesem Jahr mit anderen Bürgerrechtlern den Friedensnobelpreis erhält, ist nicht genehmigt und daher riskant. Der Ort erinnert an die kommunistische Gewaltherrschaft und staatlichen Terror, den auch heute wieder viele Russen unter Kremlchef Wladimir Putin (70) beklagen.

Mitarbeiter von Memorial halten Wache an dem Gedenkort im Herzen der Millionenmetropole, während die Menschen gedenken. Immer wieder stören Provokateure diese leisen Aktionen bei den viel besuchten politischen Spaziergängen der Organisation.

"Wir können nicht offen zu Anti-Kriegs-Protesten auf der Straße aufrufen, weil das zu gefährlich wäre für die Menschen", sagt Alexandra Poliwanowa. Die Proteste sind verboten. Wer dennoch gegen Putins Angriffskrieg in der Ukraine demonstriert, riskiert Strafen bis hin zur Lagerhaft.

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Schon leiser Protest etwa im Internet kann gefährlich sein. "Wir sind aber noch in Freiheit, laufen auf der Straße und sprechen die nötige Wahrheit aus", sagt Poliwanowa bei dem Spaziergang mit gut zwei Dutzend Menschen entlang der Erinnerungsorte für die Opfer politischer Gewalt.

Die anderen Friedensnobelpreisträger hätten es dagegen schwerer: In Belarus sitzt der Menschenrechtsanwalt Ales Bjaljazki (60) im Gefängnis. Und in der Ukraine machen die Kollegen der Bürgerrechtsorganisation "Center for Civil Liberties" unter Beschuss russischer Raketen ihre Arbeit, wie Poliwanowa sagt.

Friedensnobelpreis für "Memorial"

Der prominente Moskauer Bürgerrechtler und Vorstandsvorsitzender der in Russland aufgelösten Menschenrechtsorganisation "Memorial", Jan Ratschinski.
Der prominente Moskauer Bürgerrechtler und Vorstandsvorsitzender der in Russland aufgelösten Menschenrechtsorganisation "Memorial", Jan Ratschinski.  © Alexander Zemlianichenko/AP/dpa

Memorial erklärte zu dem Preis, der am 10. Dezember in der norwegischen Hauptstadt Oslo verliehen wird, dass er eine Ehre sei, weil er die "depressive Stimmung" in der russischen Zivilgesellschaft aufhelle. Und die Auszeichnung würdige, dass sich auch in Russland Bürger aktiv gegen den Krieg engagierten.

Memorial ist eine große internationale Bewegung mit Strukturen in vielen russischen Städten, aber auch im Ausland. Öffentlich verurteilte die Organisation immer wieder russische Kriegsverbrechen in der Ukraine - und hat sich damit in Russland im Machtapparat viele Feinde gemacht.

Die Bürgerrechtler betreiben über die sozialen Netzwerke Aufklärungsarbeit zum Beispiel darüber, wie Russen sich Putins Teilmobilmachung entziehen können, um nicht in der Ukraine kämpfen und sterben zu müssen. Auch solche Spaziergänge wie in Moskau zu den Orten staatlicher Verbrechen dienen dem Austausch Gleichgesinnter und dem Zusammengehörigkeitsgefühl.

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"Eines der größten Verbrechen Putins ist die Zerstörung der Zivilgesellschaft, die Verhinderung von Kommunikation, Solidarität und Selbstorganisation", sagt die Historikerin Poliwanowa, die im Vorstand von Memorial arbeitet.

Gerade versucht sie mit anderen, die jährliche Aktion "Rückkehr der Namen" für den 29. Oktober zu organisieren. Dabei werden die Namen von Opfern des staatlichen Terrors zu Zeiten der kommunistischen Gewaltherrschaft in der Sowjetunion vorgelesen.

Für die friedliche Aktion, die Putins System als politischen Affront sieht, sind mehr als zehn Genehmigungen unterschiedlicher Behörden notwendig, wie Poliwanowa sagt. Die Erlaubnis hat sie bisher nicht.

"Ich bin mir des Risikos bewusst, dass ich im Gefängnis landen kann"

An der Fassade eines Wohnhauses in Moskau hängt eine schwarze Tafel mit der Aufschrift: "All denen, die in diesem Haus lebten, gingen und nicht zurückkehrten".
An der Fassade eines Wohnhauses in Moskau hängt eine schwarze Tafel mit der Aufschrift: "All denen, die in diesem Haus lebten, gingen und nicht zurückkehrten".  © Ulf Mauder/dpa

Die russische Justiz hatte die Organisation schon im vorigen Jahr aufgelöst, weil Memorial gegen Gesetze verstoßen haben soll. Die Menschenrechtler lehnten es ab, den umstrittenen Titel "ausländischer Agent" zu tragen. Als das Nobelkomitee am 7. Oktober in Oslo die diesjährigen Preisträger bekannt gab, beschlagnahmte der russische Staat noch per Gerichtsbeschluss den Stammsitz der Organisation, das Gebäude samt Begegnungsräumen und Archiv im Stadtzentrum.

Das Archiv sei gerettet, zu Teilen auch schon digitalisiert, sagt Poliwanowa. "Aber das Gebäude, unser Eigentum, ist nun erst einmal weg; wir haben jetzt keinen Ort mehr, an dem wir uns treffen können." Es bleiben diese Spaziergänge zu den Erinnerungsorten mit den kleinen Aktionen, bei denen die Namen der Opfer der Gewaltherrschaft laut vorgelesen werden.

Die in den sozialen Netzwerken angekündigten und zwei-, dreimal pro Woche organisierten Touren für um die 20 Teilnehmer sind immer binnen weniger Minuten ausgebucht.

"Ich bin mir des Risikos bewusst, dass ich im Gefängnis landen kann, aber es ist mir wichtiger, mich für die Freiheit einzusetzen", sagt der Student Michail, der aus der Stadt Nowgorod nach Moskau gekommen ist. Der 21-Jährige gehört zu jenen, die am Gedenkort in der Hauptstadt die Namen der Toten vorlesen. Und er ruft laut: "Freiheit für die politischen Gefangenen!" In seiner Heimatstadt will er selbst die Memorial-Arbeit etablieren - trotz des Drucks der Behörden.

Memorial-Chef Jan Ratschinski, der in Oslo die Rede von russischer Seite bei der Nobelpreis-Verleihung hält, zeigte sich zuletzt wiederholt zuversichtlich, dass die Arbeit der Organisationen weitergeht.

"Idee und Mission von Memorial sind Menschen, Geschichte, Hilfe für die Opfer von Repressionen, der Kampf gegen staatliche Gewalt", sagte er. "Aber es ist nicht möglich, Erinnerung und Freiheit zu verbieten."

Titelfoto: Ulf Mauder/dpa

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