Bürgergeld statt Hartz IV: Reform zeigt große Gefahr für Deutschland

In diesem Kommentar zu Hartz IV und dem Bürgergeld-Kompromiss wirft TAG24-Redakteur Florian Gürtler (45) einen besorgten Blick auf das Zustandekommen der Einigung und fragt, was sich daraus hinsichtlich der Parteien-Landschaft in Deutschland ableiten lässt.

Nach dem Kompromiss zwischen der Ampel und den Unionsparteien ist klar: Hartz-IV wird mit der Um-Etikettierung zu "Bürgergeld" ein neues Label verpasst. Das überraschend reibungslose Zusammenwirken von SPD, Grünen und FDP mit CDU und CSU wirft dabei ein Schlaglicht auf die politischen Verhältnisse in unserem Land und zeigt ein Problem auf, das sich womöglich zu einer großen Gefahr entwickeln könnte.

Der Bundestag stimmte bei seiner Sitzung am Freitag dem Bürgergeld-Kompromiss zu.
Der Bundestag stimmte bei seiner Sitzung am Freitag dem Bürgergeld-Kompromiss zu.  © Bernd von Jutrczenka/dpa

Die Kritiker des Bürgergeldes bemängeln vor allem die zu geringe Erhöhung der Regelsätze für die Betroffenen sowie die uneingeschränkte Beibehaltung der Sanktions-Maßnahmen ab dem ersten Tag des Leistungsbezugs.

Unter denjenigen, die das neue Bürgergeld für eine bloße Mogelpackung halten, ist auch die sozialpolitische Bewegung "Ich bin armutsbetroffen", die schon seit längerer Zeit auf die zunehmende soziale Spaltung in Deutschland und die prekäre Lage der sozial Abgehängten in unserem Land aufmerksam macht.

Ein Twitter-Thread von "Ich bin armutsbetroffen" vom heutigen Freitag geht unter anderem auch auf die Rolle der Parteien SPD und Grüne ein, die zentrale Forderungen aus dem zurückliegendem Bundestagswahlkampf zur Überwindung von Hartz IV über Bord werfen mussten, um den Kompromiss mit CDU und CSU zu ermöglichen.

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"Die zwei 'sozialen' Parteien @Die_Gruenen @spdbt 'streiten' ganze drei Tage und geben die Debatte dann wieder einmal mit 'Bauchschmerzen' auf. Wollt Ihr wirklich Armut nachhaltig bekämpfen oder sind das Rollen, die Ihr da spielt, weil eine Korrektur und neue Reform formal von Euch nach all den Jahren erwartet wird? Wer mit Herzblut für Veränderung kämpft, gibt nicht so schnell auf. Unglaubwürdig. Und dann feiert Ihr Euch ernsthaft für diesen lächerlichen Misserfolg!" (Schreibweise angepasst), ist in dem Thread zu lesen.

Diese Formulierungen geben Anlass zu einigen grundsätzlichen Überlegungen.

SPD, Grüne, FDP sowie CDU und CSU bilden das politische "Zentrum" von Deutschland

Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (50, SPD) verfolgt die Abstimmung zum Bürgergeld im Bundesrat.
Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (50, SPD) verfolgt die Abstimmung zum Bürgergeld im Bundesrat.  © Wolfgang Kumm/dpa

Um zu verstehen, wie der Bürgergeld-Kompromiss so schnell zustande kommen konnte, ist es notwendig, sich eines Begriffs zu erinnern, der in Deutschland nicht mehr geläufig ist, für dessen Reaktivierung die Journalistin Ines Schwerdtner (33) jedoch eintritt.

Schon im September des vergangenen Jahres veröffentlichte die Chefredakteurin des deutschen Jacobin-Magazins einen Artikel, in dem sie dafür plädierte, den Begriff des politischen "Zentrums" wieder aufzugreifen.

Damit ist ihr zufolge gemeint, dass Parteien sich zwar formal und hinsichtlich ihrer politischen Forderungen unterscheiden können, im Kern aber gemeinsam haben, dass sie grundlegende Aspekte der ökonomisch-institutionellen Ordnung der jeweiligen Gesellschaft/des jeweiligen Staates in jedem Fall beibehalten wollen.

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Der Bürgergeld-Kompromiss zeigt, dass die daran beteiligten Parteien SPD, Grüne, FDP, CDU und CSU alle zu eben diesem Zentrum gehören - denn die seit langem bestehende gravierende soziale Spaltung in Deutschland wird grundsätzlich beibehalten, die Sanktions-Tyrannei innerhalb des Angst-Regimes Hartz IV/Bürgergeld ebenfalls.

Bloße Verwaltung des Status Quo anstelle von grundlegenden Veränderungen

TAG24-Redakteur Florian Gürtler (45) lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
TAG24-Redakteur Florian Gürtler (45) lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.  © Florian Gürtler

Was nun die "Rolle" von SPD und Grünen innerhalb dieses Spiels betrifft, nach welcher der Thread von "Ich bin armutsbetroffen" gefragt hatte, die beiden Parteien haben diese in der Tat exakt so erfüllt, wie es Ines Schwerdtner für das Konzept des politischen Zentrums im vergangenen Jahr ausgeführt hat.

Sozialdemokraten und Bündnis-Grüne haben im Wahlkampf das in der Gesellschaft tatsächlich vorhandene Unbehagen über Hartz IV aufgegriffen und daraus Forderungen abgeleitet, sie hatten aber offensichtlich kein großes Problem damit, am Ende einem Kompromiss zuzustimmen, der nichts weiter ist, als eine Beibehaltung des bisherigen Zustandes unter minimal verbesserten Bedingungen.

Für die politische Kultur ist das Vorhandensein eines solchen politischen Zentrums gefährlich, denn es untergräbt die Glaubwürdigkeit des politischen Personals und ihrer Parteien, macht es doch offensichtlich keinen allzu großen Unterschied mehr, welchen Vertreter des Zentrums man wählt - auch dies zeigt der oben zitierte Twitter-Thread.

Noch schlimmer sind die Aussichten, wenn man bedenkt, dass Gesellschaft und Politik vor der Menschheits-Herausforderung des Klimawandels stehen.

Denn für die Abwendung einer Klimakatastrophe ist es nahezu verheerend, wenn alle maßgeblichen Parteien des politischen Betriebs im Grunde nur den Status Quo unterschiedlich verwalten wollen, anstatt die Verhältnisse grundlegend zu verändern - ökonomisch, ökologisch und sozial.

Titelfoto: Montage: Bernd von Jutrczenka/dpa, Florian Gürtler

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